Renn.
Ihre Füße flogen über den federnden Waldboden. Äste peitschten ihr ins Gesicht, zerkratzten ihre Arme und hinterließen blutige Striemen auf der Haut. Den Schmerz ignorierend, strich sie das Gestrüpp hektisch beiseite. Es behinderte sie. Sie … sie musste rennen.
Ihr Kleid verfing sich; mit einem Ruck riss sie sich los. Immer schneller, nur nicht langsamer werden. Ihr Herz trommelte im gleichen, immer schneller werdenden Takt ihrer Füße gegen ihre Brust, feuerte sie an. Ihr Atem ging keuchend, ihre Lunge stach.
Unruhig zuckten ihre Augen durch die Dunkelheit. Die Unterarme schützend vors Gesicht haltend, stieß sie wie von selbst alle Äste beiseite. Die hölzernen Finger schlugen gegen ihre geschundene Haut, rissen immer neue Furchen hinein.
Ihre Muskeln schmerzten, doch sie durfte nicht stehen bleiben. Musste weiter, immer weiter. Gejagt vom unsichtbaren Feind. Mit Tränen in den Augen kämpfte sie sich durch den dichten Wald, die Ellenbogen ausgefahren.
Sie stolperte über eine Wurzel, fiel der Länge nach in spitze Nadeln. Ihr Kinn schlug hart auf dem Boden auf, alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, rappelte sich sofort wieder auf. Ein lautes Ratschen, als ihr Kleid abermals zerrissen wurde.
Sie bekam nicht genug Luft, ihr Atem rasselte, ihr Körper zitterte. Und doch blieb sie nicht stehen. Ihr Knöchel schmerzte – sie humpelte weiter vorwärts.
Ein Teil von ihr wusste, dass es bereits vorbei war. Dass sie diesen Kampf verloren hatte, dass sie so keine Chance mehr hatte. Verletzt, wie sie war, am Ende ihrer Kräfte.
Doch ein anderer, stärkerer Teil, trieb sie immer weiter zur Flucht an. Zur Flucht vor etwas, von dem sie nicht einmal wusste, was es war. Immer weiter schleppte sie sich, immer schwerfälliger. Jede Bewegung löste weitere Schmerzen aus, die durch ihren Körper sirrten, sie zucken ließ. Verzweiflung bahnte sich in Wellen durch ihre Adern. Sie wollte aufgeben, wollte nicht weiter. Wollte stehenbleiben und sich in die spitzen Nadeln fallen lassen, wollte schlafen. Einfach nur schlafen, ihre Wunden und ihre Flucht vergessen.
Erschöpft blieb sie stehen, hörte nichts als ihren eigenen Atem und ihren donnernden Herzschlag, spürte nichts als die Schmerzen im ganzen Körper, als sie auf dem Boden zusammensank, den Kopf hängen ließ. Sie konnte nicht mehr.
Hitze, kaum dass sie aufgegeben hatte. Sie spürte die Flammen, bevor sie sie berührten, roch den Rauch, bevor das Feuer sie erreichte. Sie brachte kaum die Kraft auf, den Kopf zu drehen, sah mit verzweifelter Angst, wie die Flammen um sich griffen, hungrig die Bäume ringsherum befielen, sie qualvoll zerfraßen. Brennende Zweige fielen knisternd zu Boden.
Es war wie eine Welle Eiswassers, die über sie schwappte, ihre Haut sich schmerzhaft zusammenziehen und gefrieren ließ und ihre Bewegungen lähmte. Der Wald war hell erleuchtet, die Flammen schossen hoch in den Himmel, verdrängten die einstige Dunkelheit und hüllten die Welt in einen blutlechzenden Schleier aus Hitze, Rot und Rauch.
Es waren langgezogene Sekunden, die sie verschwendete, bis ihre Atmung sich beschleunigte, wieder Luft durch ihren Körper pumpte, als wäre sie noch immer in vollem Lauf.
Ein Wimmern entfloh ihren Lippen. Zum ersten Mal dachte sie daran, dass sie nicht sterben wollte. Sie drehte ihren Körper herum, fiel auf den Bauch wie ein nasser Sack. Wie eine Puppe, die man nicht länger festhielt. Sie war des Kämpfens müde.
Nur am Rande nahm sie die Nadeln wahr, die sich in ihre Haut bohrten. Ätzender Rauch brannte sich in ihren Hals, ihre Lungen, trieb ihr Tränen in die Augen. Sie sah vor sich und konnte doch nichts erkennen. Blind streckte sie einen Arm vor, zog ihren Körper Zentimeter für Zentimeter über den Boden. Sie kam langsam voran, robbte mühsam und mit letzter Kraft vorwärts. Es war ein Akt der Verzweiflung.
DU LIEST GERADE
Das Flüstern Kentairas I - Graues Gift
Fantasy"Ein Flüstern. Nichts weiter als ein Flüstern. Und doch so machtvoll." Eine Welt, in der die Frage nach richtig und falsch nur im Untergrund existieren kann. Eine Welt wie Kentaira, Annes Heimat. Ihr Leben lang trainiert sie, geht an ihre Grenzen, n...