Kapitel 2

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    Anne lag seitlich in ihrem Bett, den Kopf auf eine Hand gebettet und starrte in die Dunkelheit. Sie lauschte dem Gewitter, das draußen tobte, dem Regen, der energisch gegen ihr Fenster prasselte. Immer wieder durchbrach gleißend hell ein Blitz die Finsternis, dicht gefolgt von grollendem Donner. Sie hörte das Heulen des Windes, der durch die Ritzen der Wände pfiff. 

    Anne fand keinen Schlaf. Zu viele Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, hielten ihre Augen geöffnet. Die Nervosität hatte sich in ihrem Bauch eingenistet und sandte tausend kleine Stromschläge aus, die sie wachhielten.

    Morgen war der Tag. Der Tag, auf den sie ihr ganzes Leben lang hingearbeitet hatte, täglich hart trainiert hatte. Der Tag der Auswahl. Der Tag, an dem ihre Großmutter entscheiden würde, wer von ihnen Beschützer werden würde. Anne krümmte sich bei dem Gedanken, so schlimm wurde das Blitzen in ihrem Bauch.

    Für diesen einen Tag hatte sie sich jeden Tag dem auslaugenden Training in der Akademie der vereinten Magie gestellt. Sie hatte jeden Tag körperliche Übungen absolviert, um Kraft, Ausdauer und Reflexe zu verbessern. Sie hatte jeden Tag ihre Fertigkeiten mit dem Umgang ihrer Magie perfektioniert. Sie hatte alle Anstrengungen verbissen durchgehalten, hatte all ihre Konzentration und all ihre Energie in die Einheiten fließen lassen. Sie hatte jede Schikane ihrer Trainer ausgehalten, mochten sie auch noch so wenig Gnade gezeigt haben. Und das alles nur, damit die violette Magie sie heute für fähig genug hielt, Beschützer zu werden. Morgen sollte sich alles bezahlt machen. Morgen würde es sich alles bezahlt machen.

    Wobei Anne nicht behaupten konnte, das Training nicht auch genossen zu haben. Wenn sie ihre Magie benutzte, dann versank sie in vollkommener Konzentration. Dann war jede Faser ihres Körpers angespannt. Wenn sie den Schweiß auf ihrer Stirn spürte, den Rausch der Magie und der Freiheit in ihren Adern, wenn ihr donnernder Herzschlag alles übertönte … es war ein unglaubliches Gefühl. Es war unsagbar anstrengend, es war auslaugend, aber es war berauschend. Und wenn sie so vollkommen fokussiert war, dann verstummten für einen kleinen Moment ihre sonst so lauten Gedanken. Anne brauchte diese Momente der Stille in ihrem Kopf, atmete sie wie die Luft in ihre Lungen. Verausgabte sie sich nicht, trainierte sie nicht täglich bis zum Umkippen, dann wurden ihre Gedanken unendlich laut. Zu laut, als dass sie es aushalten konnte. Also trainierte sie. Verbissener als alle anderen, so hoffte sie. Härter, so glaubte sie.

    Und doch blieben da die Zweifel, zupften an den feinsten Saiten ihrer Seele und ließen sie nicht schlafen. Ja, Grazeda hatte ihr immer und immer wieder gesagt, sie sei etwas Besonderes. Und ja, Anne vertraute Grazedas Urteil. Sie hörte von allen Seiten, was für eine weise und intelligente Frau sie doch sei. Und sie vernahm das Flüstern der violetten Magie, konnte bruchstückhaft die Zukunft voraussehen. Dennoch blieben die Zweifel in Anne. Denn wider besseren Wissens gab es doch noch die Möglichkeit, dass nicht sie Beschützerin wurde, sondern Vendra Isami. Diese Möglichkeit war klein, das sagte sie sich immer wieder, aber Vendra war ebenfalls ein Luft-Elementar. Auch sie konnte den Platz im Beschützerkreis besetzen. Wenn die violette Magie Grazeda ihren Namen flüsterte.

    Anne fragte sich, was sie tun würde, würde ihr Name morgen nicht fallen. Es würde ihr Leben mit Sinnlosigkeit füllen. Es würde zerbröseln wie ein sprödes Stück Papier. Sie würde ihrer Schwester und all den anderen Beschützern dabei zusehen müssen, wie sie das Land bereisten, fremde Menschen und Orte, Tiere und Pflanzen sahen, gewaltige Naturphänomene wie das Meer im Süden, die Wüste im Norden und die Gebirge im Osten und im Westen. Anne könnte dann nicht mit ihnen kommen, würde auf ewig zwischen den Mauern Airas, der Hauptstadt des Landes Kentaira, gefangen sein. Dabei war sie doch diejenige, die sich von hier fortwünschte, seit sie denken konnte. Nicht, weil sie es hier nicht mochte, aber weil sie mehr sehen wollte. Sie wollte das Meer riechen, über das sie so viele Geschichten gehört hatte. Sie wollte den Sand zwischen ihren Fingern hindurchrieseln lassen, wie die Schiffersleute es ihr erzählt hatten, denen Anne schon viele Stunden im Gasthaus am Hafen gelauscht hatte. Wenn sie durch die Gassen der Stadt streifte, dann träumte sie sich fort zu diesen fremden Orten. Dann stellte sie sich die verschiedenen Tiere vor, von denen man ihr erzählt hatte. In Aira gab es keine Tiere, sie hielten sich von der Stadt und den vielen Magiern darin fern. Auch im angrenzenden Wald hatte Anne noch nie welche gesehen, obwohl ihr gesagt worden war, dass es dort durchaus welche gab. Sie hielten sich nur versteckt. Lediglich Vögel sah man hin und wieder weit über ihren Köpfen am Himmel kreisen, den Wind unter ihren ausgebreiteten Schwingen.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt