Anne riss die Augen auf, erstickte ihren Aufschrei in ihrem Ärmel. Ihr Körper wurde unkontrolliert durchgeschüttelt, als rüttelte jemand grob an ihren Schultern. Heiße Tränen brannten in ihren geweiteten Augen. Sie löste ihren Kiefer von ihrem Arm, schlang die Hände um den Körper, wiegte sich leise wimmernd vor und zurück. Unter ihren geschlossenen Lidern quoll beständig Wasser hervor, rann kühl ihre Wangen hinab. Ihr Atem verließ zischend und japsend ihren Mund; ihn leise zu halten, war beinahe unmöglich. Die Kälte kroch von dem harten Steinboden in ihre Glieder, strich eisig über ihre Härchen, nistete sich unter ihrer Haut ein. Die dünne Decke spendete kaum Wärme.
Das war nicht ich, dachte Anne immer wieder, wiederholte es in ihrem Kopf wie ein Mantra. Das war nur ein Traum. Allein beim Gedanken an ihre eigene Grausamkeit, ihre eigene Unbarmherzigkeit, wie sie sich an fremdem Leid gütlich getan hatte – Übelkeit regte sich in ihrem Magen.
Das war nicht ich.
Nur ein Traum.
Telzian. Sie war schneller auf den Füßen, als sie denken konnte, erhob sich leichtfüßig von dem kalten Boden. Innerlich lachte sie sich selbst aus – es war lächerlich, irrsinnig, die Angst unbegründet. Sie hatte nur geträumt. Doch da war ein anderer Teil in ihr, der sie rastlos vorantrieb, der sich vergewissern wollte. Was war auch schon dabei? Anne versuchte, ihren zitternden Atem zu beruhigen, das schwer in ihrer Brust flatternde Herz zu ignorieren. Eine düstere Vorahnung umhüllte sie, trieb ihr nervösen Schweiß auf die Haut.
Sie versicherte sich selbst, dass sie nur kurz nach ihm sehen würde. Sobald sie sicher sein konnte, dass er weich gebettet lag, friedlich schlummerte und nichts mitbekommen hatte von den Fantasien, die ihre Träume gesponnen hatten, würde sie sich selbst wieder schlafen legen. Nur kurz nachsehen.
Anne stolperte durch die Dunkelheit. Ihr keuchender Atem und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönten ihre tastenden Schritte, die sich vorsichtig über den Boden schoben; bedacht darauf, nirgendwo anzustoßen oder jemanden zu stoßen. Denn dort lagen drei Menschen, die sie wecken konnte. Niemand von ihnen war tot.
Sie erreichte das erste Bett, lauschte, hielt selbst die Luft an. Keine gleichmäßigen Atemzüge, die sie sich so sehr zu hören wünschte. Außer ihrem Puls umfing sie knisternde Stille. Das musste nichts heißen, sagte sie sich. Anne nahm ihren ganzen Mut zusammen und streckte die Hände aus, tastete zwischen dem Stoff nach einem lebenden, warmen Körper. Sie fand keinen.
In ihren Ohren klingelte es, Schwindel erfasste sie. Sie schwankte. Nein. In stillem Trotz dachte sie es. Das musste nicht Telzians Schlafstätte sein. Hastig schüttelte sie den Kopf.
Das nächste Bett. Leer.
Anne hörte ihren überlauten Herzschlag, bewegte sich hektischer. Sie stieß mit dem Bein an Holz, ignorierte den Schmerz, stolperte weiter. Glühende Hitze befleckte in unsteten Schwallen ihre Wangen. Ihre Finger tasteten sich fahrig vor, fanden eine verlassene Decke. Anne entwich ein langgezogenes Keuchen. Sie spürte ihren rasenden Puls, der kochendes Blut durch ihren Körper pumpte. Das Rauschen in ihren Ohren verdrängte jedes andere Geräusch. Ihre Finger krampften sich um den dünnen Stoff, ihr Körper krümmte sich, beugte sich vor. Heiße Tränen tropften von ihrem Gesicht. Ätzende Säure schien durch ihre Adern zu fließen, sie von innen heraus aufzufressen. In ihrem Kopf wurden Stimmen laut, zischelten ihr bösartige Worte ins Ohr. Mörderin.
Du hast ihn getötet.
Sie schüttelte den Kopf, immer wieder, bis ihr die langen Haare ums Gesicht peitschten. Ihre Schultern bebten. Das konnte nicht sein. Das war ein Traum gewesen. Einer, der sich angefühlt hatte wie die Wirklichkeit – einer, der tatsächlich geschehen war? Eine Gänsehaut zog sich über Arme und Rücken.
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Das Flüstern Kentairas I - Graues Gift
Fantasy"Ein Flüstern. Nichts weiter als ein Flüstern. Und doch so machtvoll." Eine Welt, in der die Frage nach richtig und falsch nur im Untergrund existieren kann. Eine Welt wie Kentaira, Annes Heimat. Ihr Leben lang trainiert sie, geht an ihre Grenzen, n...