Kapitel 15

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 Eine Haarsträhne kitzelte Anne im Gesicht. Sie zuckte mit dem Kopf herum, doch sie hielt sich hartnäckig. Ein Windhauch fuhr über sie und sie kuschelte sich noch mehr zusammen. Ein Auge öffnete sich einen Spalt. Sie erblickte graues Gestein, wohin sie auch blickte, das das helle Sonnenlicht reflektierte. Geblendet blinzelnd setzte Anne sich auf, die Bewegungen steif. Alles tat ihr weh von dieser Nacht auf hartem Boden. Das Kleid klebte verdreckt und verschwitzt an ihrem Körper. Sie fühlte sich beschmutzt, wollte den Stoff loswerden, der bereits an einigen Stellen eingerissen war. Noch etwas benommen beschirmte Anne ihre Augen mit einer Hand, sah nach dem Sonnenstand. Die Zeit hatte gerade erst die Schwelle vom Morgen zum frühen Vormittag überschritten. Der Tag war noch jung, die Vögel trällerten fröhlich ihre zauberhaften Lieder mit ihren hohen Stimmchen.

Annes orientierungsloser Blick fiel auf den glucksenden Bach neben ihr. Ihre Kehle fühlte sich bereits wieder ausgedörrt an, also versenkte sie die zu einer Schale geformten Hände in dem kühlen Nass und führte das Wasser immer und immer wieder an ihre Lippen. Dann seufzte sie, ließ den Blick über die Ebene huschen. Sie war allein. Kurzerhand zog sie sich das Kleid über den Kopf und sprang mit einem Platschen in den eiskalten Bach. Ihre Füße standen auf kleinen, rundgeschliffenen Steinchen. Sie fröstelte und rieb sich schnell mit den Händen über den Körper, rieb so den gröbsten Schmutz von ihrer Haut. Doch zugleich genoss sie es, zu baden, so kalt es aus sein mochte. Sie hielt die Luft an und tauchte kurz mit dem Kopf unter, versuchte – vergeblich –, ihre Haare ein wenig zu entwirren und auch sie mit dem Wasser zu waschen.

Lange hielt sie es nicht in der Kälte aus und so kletterte sie schon bald mit steifen Bewegungen wieder aus dem Bach aus, die Arme zitternd um ihren Körper geschlungen. Sie genoss die Wärme der Sonnenstrahlen und obwohl sie sich schämte, blieb sie weiterhin nackt, tunkte auch den Fetzen, den sie Kleid nannte, ins Wasser, bevor sie ihn auswrang und die Sonne zum Trocknen legte. Selbst setzte sie sich auf einen Stein, ließ den Blick immer wieder herumwandern, auf der Suche nach Menschen. Allein bei dem Gedanken stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Ihre Blöße bedeckte sie so gut es ging mit den Händen. Doch da war niemand, der sie sehen könnte. Wie auch? Sie war mitten in den Bergen; hier gab es nichts.

Immer wieder wanderten Annes Hände zu ihrem Bauch, der stach und schmerzte. Sie keilte ihre Handgelenke hinein, in der Hoffnung auf Linderung. Die Übelkeit hatte sich ihrer bemächtigt und sie meinte den Grund zu kennen. Das war kein Wunder, wenn sie seit einem ganzen Tag nichts mehr gegessen hatte. Vielleicht rührte es aber doch von der grauen Substanz her, die man ihr verabreicht hatte. Anne wusste es nicht, dennoch brauchte sie bald Nahrung. Ohne sie konnte sie nicht lange überleben.

Anne schnappte sich ihr Kleid. Es hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Gestein. Noch etwas feucht, aber es musste auch so gehen. Als sie es übergestreift hatte, fühlte sie sich auch schon deutlich wohler. Der Stoff schmiegte sich an ihren Körper, gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Er verhüllte sie vor unsichtbaren Augen, die überall zu lauern schienen. Anne seufzte wohlig.

Ihr Blick glitt über die felsige Ebene. Alles gleich, alles kahl. Wohin sollte sie nur gehen? Sie fühlte sich verloren, mitten in der Fremde. Hier, wo niemand war und nichts gedieh. Weit, weit weg von ihrer Heimat, deren Stadtmauern sie nie verlassen hatte. Wie ein Tier bahnte sich in ihrer Brust etwas an, wuchs darin empor, kroch bis zu ihren Augen empor, wo es sich in Form von Tränen sammelte. Schnell wischte sie sie beiseite, wollte sie nicht zulassen.

Vorwärts. Sie musste lächeln. Die Einflüsterungen der grauen Stimme waren noch nicht verschwunden und in diesem Moment war sie froh über das Zischeln in ihrem Kopf, das ihr auch hier, irgendwo im Nirgendwo, noch den Weg wies und nicht nur in der grauen Festung.

Anne ging voran, wurde am Bach entlanggeführt, kletterte über Felsen und balancierte über Geröll. Sie hörte ein weit entferntes Rauschen, das immer näherkam, je weiter sie ging. Bald schon wurde alles andere von diesem Geräusch überdeckt.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt