Kapitel 21

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    Tage vergingen, in denen Anne das Laufen wieder lernte. In denen sie wieder zu Kräften kam. Telzian saß oft bei ihr am Bett, redete und lachte mit ihr. Er wurde Anne zu einem guten Freund – von einer Art, die sie nie zuvor erlebt hatte. Die Krankenstation hatte einen schönen Garten, den man liebevoll hegte und pflegte. Sooft sie konnte, stand Anne draußen, spürte das weiche Gras unter ihren nackten Füßen und sog den süßen Duft der Blumen ein, die in allen Farben schillerten. Manchmal begleitete Telzian sie, selten sah sie auch Filrona mit einem entzückten Lächeln an den Blütenblättern zupfen oder nachdenklich ins Leere starren, wobei sich Sehnsucht und Düsternis auf ihrem Gesicht spiegelten, während sie auf dem Boden saß und Grashalme ausrupfte. Sie wechselten nicht viele Worte und Anne versuchte nicht, sich ihr aufzudrängen. Filrona kam sie nie auf ihrem Zimmer besuchen, hüllte sich stets in mystisches Schweigen. Doch Anne hielt noch immer an dem fest, was sie ihr gesagt hatte – sie durfte nicht aufgeben. Der Gedanke gab ihr Kraft, wann immer er ihr in den Sinn kam. Sie rief sich Svanjas Gesicht wieder vor Augen. Svanja, die sie gebeten hatte, die Welt zu verändern. Ob sie es konnte, wusste sie nicht. Doch sie würde nicht zulassen, dass der Druck sie erstickte.

Noch immer war Anne viel ans Bett gefesselt und damit einher gingen Stunden der Einsamkeit. Pfleger kamen vorbei, Telzian leistete ihr Gesellschaft, selbst Svanja – die ebenfalls mit nach Slakvé gekommen war – stattete ihr hin und wieder einen Besuch ab, fand aufbauende und ermutigende Worte. Dennoch. So viele Stunden war Anne allein, ihren Gedanken ausgeliefert, während die Einsamkeit an ihr nagte. Sie versuchte, sich mit Magieübungen davon abzulenken, arbeitete Pläne aus, wie sie zurück nach Aira kam. Zu diesem Zweck hatte man ihr sogar eine Karte von Kentaira gegeben, die sie häufig studierte, mit den Augen absuchte. Jeden Tag erhöhte sie ihr Pensum an Sport, verausgabte sich körperlich. All das konnte nicht verhindern, dass sich dunkle Erinnerungen in ihren Kopf schlichen, die sie am liebsten aussperren würde, dass zischende Zweifel und Alpträume sie zu verzehren drohten. Sie dachte an ihren Cousin Semil, die Haut eisüberzogen, das Gesicht erstarrt. Ihre Gedanken spannen tausend Szenarien, was mit ihm geschehen sein könnte, was vielleicht immer noch mit ihm geschah, eines grauenvoller als das andere. Sie dachte an die Explosionen in der Akademie, die seinem auf schauderhafte Art versteinerten Körper vorausgegangen waren. Wie viele Leben hatten sie gekostet, wie vielen hatte Kalee Merui mit ihrer grauen Magie ein grausiges Ende gesetzt? Immer wieder drängte sich Anne die Frage auf, ob es auch Yoliandé Ahasok getroffen hatte, ihre Großtante. Grazeda, Jess. Ob ihre Mutter noch lebte, ihr Vater, die ganze Reihe frisch ernannter Beschützer.

In den Momenten, in denen diese Gedanken bei ihr Einzug erhielten, verließ sie jeder Mut. Für diese Personen hatte sie salzige Tränen vergossen, war sich ihres Todes für kurze, schreckliche Augenblicke so sicher gewesen. Wann immer sie fest daran glaubte, dass sie noch am Leben waren, kamen ihr die Zellen der grauen Festung wieder in Sinn. Dunkel, abstoßend, kalt. Ob um ihre Freiheit brüllende Menschen sie nun bevölkerten, sich verzweifelt an die unnachgiebigen Stäbe klammernd? Nein, nicht unnachgiebig. Anne hatte sie herausgebrochen, war geflohen. Es war ihr noch immer ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, bereitete ihr noch immer Kopfzerbrechen. Aber wenn sie es vollbracht hatte, vielleicht konnten sich dann auch andere aus dem Gefängnis befreien. Würde man anderen Insassen ebenso wie ihr gewaltsam die graue Flüssigkeit verabreichen, bis ihre Schreie verstummten und sie zu grauen Magiern rekrutiert wurden, gezwungen, das eigene Land zu verraten und zu bekämpfen, das Gewissen zu ersticken in tödlichem Rauch? Ein grauenhafter Gedanke, dem Anne sich nicht zu lange hingeben wollte. Er zerfraß sie. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihre Familie zu willenlosen Monstern gemacht wurde.

Zwei Wochen vergingen, bis Anne wieder bei Kräften war. Ihre kleine Truppe, bestehend aus Filrona, Telzian, Svanja und ihr selbst, wollte aufbrechen. Mit Aira als Ziel. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ein wohliges Kribbeln zog sich durch ihren Bauch. Die Scheibe vor ihr beschlug unter ihren Atemzügen. Sie lehnte mit der Hüfte am Fensterbrett, sah in die weit entfernten Berge und träumte sich an den Denekle, in ihre Heimatstadt. Wie sehr vermisste sie die ruhigen Abende, die Sonnenuntergänge am Fluss. Den Geruch des Wassers, das entfernte Stimmengewirr, das vom Gasthaus herüberwehte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 24, 2022 ⏰

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Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt