Kapitel 6

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    Wochen vergingen, zogen an Anne vorbei wie ein sachter Windstrom. Ihr Leben, ihr neues Leben, nahm geregelte Züge an. Kaum praktisches Training, mehr theoretischer Unterricht in der Akademie. Sie besuchte die Kurse regelmäßiger und verbrachte viel Zeit in der großen Bibliothek, um alles aufzuholen, was sie in den letzten Jahren versäumt hatte. Halbherzig hatte sie einen Schulabschluss ins Auge gefasst.

    Aber sie war unkonzentriert. Immerzu versank sie in Tagträumen, verschwand hinter den schützenden Mauern ihres Geistes und hüllte sich in warme Erinnerungen. Es fiel ihr schwer, den Referenten zuzuhören, wenn sie im Unterricht saß. Es fiel ihr schwer, sich auf die Zeichen in den Büchern zu konzentrieren, wenn sie hinterher den Stoff noch einmal nachlas und versuchte, ihn sich in den Kopf zu zwingen. Es fiel ihr schwer, solang die Magie hinter ihren Fingerspitzen pochte und in ihren Adern kribbelte, darauf harrend, endlich ausbrechen zu dürfen.

    Es war ein mühseliges Leben, das sie führte. Ihr immerwährender Ehrgeiz war verschwunden und sie schleppte sich durch die Tage, ohne die Realität so recht wahrzunehmen.

    Aber zumindest hatte der Sturm in ihrem Kopf sich gelegt. Zumindest war es ruhig in ihrem Inneren. Es war eine trügerische Ruhe, ja. Der Sturm, er wartete nur darauf, sich von Neuem zu erheben, heftiger zu wüten als je zuvor. Er würde die Mauern niederreißen, die sie so sorgfältig aufgebaut hatte. Er würde toben und all die Gefühle zurückbringen, die sie weggesperrt und verdrängt hatte.

    Die Zeit spielte gegen sie. Der Sturm, er hielt sich bereit. War kurz davor, sich zu entfesseln. Bald schon kam der Moment, vor dem sie sich so sehr fürchtete – der Abschied. Von Jess und den anderen Beschützern, wenn sie zu ihrer großen Reise durch Kentaira aufbrachen. Mit jeder Sekunde kam er näher. Die Zeit lief weiter, unaufhaltsam.

    Allein der Gedanke daran, ihre Schwester ziehen lassen zu müssen und selbst in Aira bleiben zu müssen, wollte ihr Herz schmerzhaft in Stücke reißen, die fest miteinander verwebten Fasern voneinander lösen, bis sie blutend am Boden lagen.

    Während die Beschützer in eine unbekannte Welt segelten, voll neuer Menschen und Erfahrungen, würde sie ein geregeltes Leben führen. Das war ihre Zukunft. Sie lag hier, in Aira. Womöglich in der Akademie, vielleicht in der Bäckerei am Straßenende. Wer wusste das schon.

    Wie paralysiert starrte Anne nach vorne, das Gesicht in eine Hand gestützt. Es glich einer starren Maske, in weiße Farbe getunkt. Oft genug hatte sie in den letzten Tagen und Wochen vor dem einzigen Spiegel des Hauses gesessen und hatte es betrachtet, hatte stundenlang versucht, sich selbst darin wiederzuerkennen. Hin und wieder hatte sie einen Teil Anne in ihren Augen aufblitzen sehen – doch für die Außenwelt hatte sie sich verändert. Sie hatte Mauern hochgezogen, um ihr Innerstes zu verbergen, die blutigen Wunden zu verdecken, die die Auswahl hinterlassen hatte. Es erschreckte sie, wie sehr sich mit ihrem Inneren auch ihr Äußeres verändert hatten. Wie leer ihr Gesicht geworden war und wie wenig Leben sie hineinzwingen konnte. Man sah ihn ihr an, diesen dumpfen Schmerz, der sie Tag für Tag begleitete.

    Sie hatte nicht erwartet, dass es so schmerzen konnte, all seine Ziele zu verlieren. Aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass die Auswahl sie verschmähen würde.

    Anne starrte nach vorne und nahm doch nicht wahr, was sie sah. Während sie sonst schwerfällig ihre immer wieder abschweifende Konzentration auf das Unterrichtsgeschehen lenken wollte, versuchte sie es heute gar nicht erst. Sie wusste, dass sie aufpassen sollte, dass sie einiges nachzuholen hatte. Sie saß in einem Kurs für theoretische Luftmagie, war umgeben von jüngeren Schülern. Sie verdeutlichten ihr immer wieder, dass sie nicht auf dem Niveau war, auf dem sie sein sollte. In den praktischen Fächern wurde sie zusammen mit älteren Schülern unterrichtet; durch die zahlreichen Zusatzstunden war sie ihrem Alter voraus. In der Theorie allerdings, die sie immer als langweilig empfunden hatte, hinkte sie hinterher. Sie hatte sich immer auf ihr Training fokussiert, die anderen Kurse vernachlässigt. Weil sie ohnehin nie gedacht hätte, dass sie den Theorie-Unterricht je würde gebrauchen können.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt