Kapitel 12: "Zieh Leine"

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Noah


„Und wie war die Schule heute." Mein Dad nimmt einen weiteren Löffel von seiner Suppe und widmet mir danach wieder seine Aufmerksamkeit. „Wie immer eigentlich. Nichts interessantes", antworte ich ihm und richte meine Augen wieder auf den Teller. „Und wie läuft es mit Lexa? Hat sie sich dort gut eingelebt? Hat sie Freunde gefunden?"

Ich weiß, dass sie sich sorgen wegen ihr machen. Sie erzählt auch nichts. Und ich weiß, dass das immer wieder ein neues Thema am Tisch ist, wenn sie nicht da ist. „Ich denke schon. Sie sitzt oft bei Nayla und ihren Freunden. Ich denke, dass sie sich gut verstehen", lüge ich sie an und kurz beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Eigentlich haben sie ein Recht darauf zu erfahren, dass Lexa entweder teilnahmslos draußen auf einer Bank sitzt oder sich in irgendeiner Ecke verkriecht. Aber das würde sie nur noch mehr belasten. Eigentlich sollten sie erfahren, dass sich Lexa noch nie im Unterricht gemeldet hat und auch bei Partnerarbeit nur aus dem Fenster starrt. Aber die Schule schiebt darauf, dass sie neu ist und dass meine Eltern es wissen.

Die Türklingel holt mich aus meinen Gedanken und augenblicklich schellt mein Blick zur Tür. „Erwartest du irgendwen?" Verwundert zieht meine Mum ihre Augenbrauen zusammen und ist grade darauf aus, aufzustehen, als ich ihr dazwischen grätsche. „Ich geh schon." Mit eiligen Schritten gehe ich auf die Tür zu und streiche mir die lästigen nassen Strähnen aus dem Gesicht.

Mit einer kurzen Bewegung öffne ich die Tür, will grade etwas sagen, als ich Lexa vor mir erkenne. Mein Blick wird weicher und Erleichterung wird in mir breit. Wer weiß, was ihr hätte passieren können, dort draußen. Allein. Bei dieser Raubkatze und den Dingos. Eine Gänsehaut überzieht mich alleine bei dem Gedanken an die Situation.

Nervös knetet sie ihre Hände und wenn ich mich nicht täusche, zittert sie leicht. Ihre langen Haare fallen strubbelig über ihren Rücken. Ihr Gesicht ist blass, wie das von einer Leiche. „Wo warst du?" Sie schuldet mir zumindest eine Erklärung, wenn sie allein aus dem Fenster geklettert ist, den ganzen Nachmitttag weg war und jetzt zitternd vor der Tür steht. Kurz suche ich die Umgebung ab, nach jemanden, der sie vielleicht gebracht hat oder mit dem sie zusammen unterwegs war. Aber nichts.

„Das geht dich nichts an", antwortet sie, so wie man es von ihr gewohnt ist. Dabei quetscht sie sich an mir vorbei und beginnt langsam die Treppe hochzugehen. Langsamer als sonst.

Ungläubig schließe ich die Türe hinter ihr und scharre ihr für einige Sekunden hinterher. Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Schnell renne ich ihr hinterher und grade als sie die letzte Stufe überwunden hat, drehe ich sie an der Schulter um. Da sie eine Stufe über mir ist, kann sie mir direkt in die Augen blicken und ich merke, wie sie sich anspannt.

„Wieso ist das so ein großes Geheimnis, wo du warst?", will ich von ihr wissen. Vorsichtig, als würde ich sie beißen, streicht sie meine Hand von ihrer Schulter, wobei ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich sie dort liegen gelassen hatte. Sie geht einen Schritt von mir weg und atmet hörbar aus. „Bitte lass es einfach, ja?", flüstert sie müde und man merkt, dass sie auf dieses Gespräch keine Lust hat.

Sie überwindet die letzten Meter zu ihrem Zimmer, bei dem sie schließlich die Türe hinter sich zu zieht. Es bringt nichts, sie jetzt weiter zu nerven, also gehe ich die Stufen, die ich vor einer Minute erst bestritten habe, wieder runter und setze mich wieder zu meinen Eltern an den Tisch. „Und wer war es", brabbelt mein Dad zwischen den Bissen. „Ach nur Lexa. Sie war doch bei Nayla heute. Hat sie das nicht gesagt?", lüge ich und so recht weiß ich nicht, warum ich sie in Schutz nehme. Wahrscheinlich, weil sie mir sonst nie vertraut. Und sie soll zumindest eine Person hier haben, der sie sich anvertrauen kann.

Not quite humanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt