Das Schloss zu knacken stellte sich als eine größere Herausforderung da als zunächst angenommen. Augenscheinlich sah es zwar sicherer als ein typisches Zimmerschloss aus, aber eher nach Haustür als nach hochsicherheits Bunker, aber es war dennoch echt standhaft. Zu meinem Glück hatte ich mich eine Zeit lang fürs Knacken interessiert, nachdem ich ein Video gesehen hatte, in dem jemand ein Dietrich Set ausprobierte. Ich hatte sogar selbst ein paar Übungsschlösser und Dietriche besessen und war gar nicht schlecht gewesen. Leider hatte ich in dieser Phase nie versucht, ein Haustürschloss mit einem Messer zu öffnen. Ich brauchte viel mehr Zeit als geplant, um die Tür zu entsichern. Als plötzlich ein Klicken zu vernehmen war, lächelte ich stolz. Triumphierend trat ich auf den Gang und sah mich um. Alles sah aus wie vorhin, nichts wies darauf hin, dass es schon Nacht war. Ich ging ein paar Schritte in Richtung Essensraum, bis mir auffiel, dass ich gar nicht wusste, wonach ich suchte. Was will ich eigentlich auf dem Gang? Nach kurzem unschlüssigem Rumstehen beschloss ich, einfach mal drauflos zu gehen. Dieses Mal musste ich nicht in nächster Zeit irgendwo sein und konnte mich somit ganz aufs Erkunden konzentrieren. Anstatt bei weiteren Abzweigungen in einem Nebengang umzukehren ging ich weiter und versuchte dabei, Unterschiede zwischen den einzelnen Gängen festzustellen. Ich entdeckte einige schwache Lampen und hier und da Dreck auf dem Boden, aber leider nichts, was mir bei der Orientierung eindeutig von Hilfe sein konnte. Zum Glück hatte ich mir aber ein Blatt Papier und einen Stift von meinem Schreibtisch mitgenommen, was ziemlich schlau gewesen war, wie sich jetzt herausstellte. Ich begann mit einer geraden Linie in der Mitte, die meinen selbsternannten Hauptgang darstellen sollte. Mein Zimmer war dabei der Anfang der Linie und der Speisesaal bezeichnete das Ende. Dann versuchte ich die Gänge, die ich entlanglief, so realitätsnah wie möglich aufzumalen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich eine ganz akzeptable Karte des näheren Gangsystems erstellt und machte mich zufrieden auf den Rückweg. Plötzlich durchbrach eine Stimme die Stille um mich herum. Alarmiert blieb ich stehen und spitzte die Ohren. „Das lief besser als erwartet", die Stimme kam von dem Gang neben mir und ich kannte sie. Das war Seth. Scheiße! Verzweifelt sah ich mich nach Versteckmöglichkeiten um, aber musste natürlich aufgeben. Mit der Hoffnung, wenigstens die Karte retten zu können, versteckte ich jene unter meinem Shirt. Da hatte er mich auch schon erreicht und starrte mich geschockt an. Ich starrte zurück, aber nicht zu ihm sondern seinem Begleiter. Das war der Typ von der Party! Er sah immer noch zum Niederknien gut aus und ich konnte gar nicht glauben, dass er tatsächlich Zeit mit mir verbracht hatte. Wobei, wenn er auch zu denen gehörte, dann hatte der Abend mit mir wohl nur einem Zweck gedient. Belustigt stellte ich fest, dass Seth um mindestens einen Kopf kleiner und eindeutig schmaler war als der Schönling. „May! Was machst du denn hier auf dem Gang?", fragte jener verwirrt. „Ähm ...ich ...Ist das meine Tasche?", ich zeigte auf die Reisetasche über seiner Schulter. Die Buttons waren unverkennbar. „Ja, ich dachte du willst vielleicht deine eigenen Klamotten haben." Er warf mir die Tasche zu und ich fing sie auf. Wie süß von ihm. „Du warst bei mir zu Hause?" „Wir waren bei dir zu Hause", brachte Seth sich kühl ins Gespräch ein, „Wer sollte deinen Eltern denn sonst erklären, wo du so plötzlich hin verschwunden bist?" Sofort wurde ich wütend: „Was habt ihr ihnen erzählt?" „Reg dich ab", sagte Seth lässig „Sie denken, dass du spontan die nächsten Tage mit deinen Freundinnen in den Urlaub fährst und dein Handy verloren hast, weshalb du dich nicht gemeldet hast und auch nicht melden wirst." Mir klappte die Kinnlade runter. „Und diese Geschichte haben sie euch abgekauft? Ernsthaft?" Seth nickte und sagte dabei arrogant: „Natürlich haben sie das. Ich meine, wer würde denn dem liebenswerten Ben nicht Glauben schenken?" „Wie meinst du das? Was hat Ben damit zu tun?" Überlegen grinste er mich an und da begann sein Haar dunkler, seine Nase spitzer und sein Kinn weicher zu werden.
Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen starrte ich Seth, den ich auch genauso gut Ben nennen könnte, an. Was für ein Arschloch. Er hatte mich monatelang ausspioniert! Fassungslos versuchte ich, die Haltung zu bewahren. Ich hatte ihm vertraut. Ich hatte ihnen beiden vertraut. Ich war verdammt nochmal in beide verknallt gewesen. Seth beobachtete meine Reaktion mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen: „Du hast wirklich nichts geahnt! Ich bin wirklich gut." Wütend ballte ich meine Hände zu Fäusten.
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Die Bibliothek (oder auch: die Geschichte aller Geschichten)
Fantasy„Das ist die Hauptzentrale, sozusagen der Verteiler des Systems. Das best gesichertse Gebäude, das wir je knacken mussten. Wie sollen wir das schaffen?", fragte Liz, während sie sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz band. „Gar nicht?", versuchte ic...