Von ungeklärten Fragen und Concealer

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Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Ich machte mich für die Schule fertig. Alles war ganz normal, wenn man mal von der Tatsache absah, dass ich Würgemale auf meinem Hals vor dem Spiegel mit Concealer hatte abdecken müssen.

Meiner Mutter hatte ich, nachdem ich mich gefangen hatte, erzählt, dass ich eine Riesenspinne auf dem Boden gesehen hätte und deshalb so schnell wie möglich weggesprungen sei.
Sie glaubte es nur halb, war immer noch misstrauisch.

Als ich zum Frühstück in die Küche runter ging, fragte sie abermals, ob mit mir
alles in Ordnung sei und ob ich die Spinne nochmal irgendwo gesehen hätte. Ich sah wohl immer noch angeschlagen aus.

Wie gern ich ihr einfach alles erzählt hätte. Ich musste mit dem Hüter unbedingt über seine Geheimnisregel sprechen, sonst würde ich noch platzen. 

Was ich erlebt hatte, ergab keinen Sinn. Wieso sollte ausgerechnet ich Nachfolgerin einer geheimen Zauberbibliothek werden? Und wie konnten diese Bibliotheken überhaupt geheim sein? Wenn sie alle so imposant waren wie die gestern, dann konnten sie doch unmöglich einfach in Mitten anderer normaler Häuser stehen. Das würde doch auffallen.
Und außerdem: Wo kamen diese selbstschreibenden Geschichten genau her? Erschienen sie einfach so im Regal, wenn man gerade mal nicht hinsah?

All diese Fragen beschäftigten mich, aber meine Unwissenheit in Bezug auf meine eigenen Kräfte machte mir als einziges wirklich Angst.
Gestern hatte ich aus Versehen die Zeit angehalten! Was, wenn mir das noch mal passiert? Was, wenn ich dann dem Psycho nicht mehr entkommen kann? Oder sogar schlimmer noch: Was, wenn ich die Zeit nicht mehr weiterlaufen lassen kann?

Ich brachte das Frühstück und somit auch die besorgten Blicke meiner Mutter so schnell wie möglich hinter mich. Ich musste nur den Tag überstehen, ohne als eingeschüchterte Irre abgestempelt zu werden und dann könnte ich dem Hüter alle meine Fragen stellen. Hoffentlich.

Auf dem Weg zum Bus versuchte ich meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck loszuwerden und stattdessen wieder mein normales, selbstsicheres Lächeln aufzusetzen. Sofie, die schon am Bus auf mich gewartet hatte, bemerkte nicht, dass heute etwas nicht stimmte. Jedenfalls ließ ihr Redeschwall über ihren Freund das vermuten.
Ich hörte nur mit einem Ohr zu, aber für eine derartige Konversation musste man ohnehin nicht wirklich mitdenken. Gelegentlich ein „Das hat er nicht getan!" oder ein „Nein, was für ein Arschloch" reichte schon aus.

Als wir in der Schule ankamen konnte ich mich sogar fast wieder entspannen. All meine Freunde hatten keine Ahnung, was mir passiert war und benahmen sich völlig normal. Ich konnte also auch einen völlig normalen Schultag haben.

Als ich in der 5. Stunde wieder im langweiligen Matheunterricht saß, dachte ich das erste Mal seit dem Morgen wieder an die Bibliothek. Unauffällig überprüfte ich das Make-Up an meinem Hals, auf das ich gar nicht mehr geachtet hatte. Erschrocken stellte ich fest, dass es verwischt war und man mehr oder weniger deutlich die Würgemale erkennen konnte. Ich fischte den Concealer aus meinem Schminktäschchen und meldete mich,  um aufs Klo zu gehen. Jetzt musste ich nur noch das Klassenzimmer durchqueren, ohne dass jemand auf meinen Hals aufmerksam wurde.

Als ich von der Toilette wieder in das Klassenzimmer zurückkehren wollte, wartete davor bereits jemand auf mich.

Seth stand lässig an die Wand gelehnt neben der Tür und beobachtete mich. „Was machst du denn hier? Wartest du auf mich oder etwa auf deine heimliche Geliebte?", fragte ich von weitem neckend.
„Ich habe die Würgemale auf deinem Hals gesehen, wer hat dir das angetan?", fragte er ernst und ohne auch nur einen Hauch von Schelm, der sonst immer in seiner Stimme mitschwang.

Seth war mein bester Freund seit dem Kindergarten und der fürsorglichste Mensch, den ich kannte. Natürlich waren ihm die Male aufgefallen und jetzt sorgte er sich um mich. Ich bekam ein ganz warmes Gefühl im Bauch, er war wirklich toll. Trotzdem würde ich ihn anlügen müssen.

„Welche Würgemale? Worüber redest du?", fragte ich also zurück und tat so, als würde er mich amüsieren. „Ich habe sie ganz genau gesehen, versuch' nicht, es zu leugnen" Als ich als Antwort nur lachte, kam er auch mich zu und packte mich am Hals. Mein Lachen erstarb und ich hatte für eine Sekunde Angst. Aber seine Berührung wollte mich nicht verletzten, stattdessen leckte er seinen Daumen ab und wischte über das Make-Up.

Angewidert stieß ich ihn weg: „Ihhhhh, Seth! Was soll das?" Ich strich mir mit dem Ärmel über die Spucke und merkte zu spät, das ich damit meinen ganzen Concealer abwischte.

Triumphierend zeigte Seth auf die erschienenen Abdrücke von Fingern: „Ha! Ich hatte also Recht! Also May, wer war das? Ich haue dem Typen eine rein"
Es hatte keinen Sinn mehr, ihn anzulügen. Das redete ich mir zumindest ein. In Wahrheit wollte ich mich aber nur jemandem anvertrauen. Also erzählte ich ihm alles, was am vorherigen Tag passiert war. Ich versuchte es so kurz wie möglich zu halten, aber am Ende hatte ich ihm bestimmt 10 Minuten vollgelabert.

Nachdem ich geendet hatte, schaute er mich perplex an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich während meines Vortrages von besorgt über erstaunt zu völlig fassungslos geändert. Er stand nun mit offenem Mund da und rührte sich nicht. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob er noch atmete. Sah er so aus, wenn er nachdachte? Mühsam unterdrückte ich ein Lachen und zwang mich dazu, den Ernst der Lage zu erkennen.

„Seth? Alles okay?" Langsam machte ich mir ein bisschen Sorgen. War es dumm gewesen, ihm von gestern zu erzählen? Vielleicht stempelt er mich als komplett durchgeknallt ab und erzählt es allen. Mein Ruf wäre ruiniert. Was aber noch schlimmer wäre: Ich hätte meinen besten Freund verloren. Besorgt wartete ich auf eine Reaktion.

„D..du hast also Zauberkräfte?", fragte er stotternd. Endlich! Er redete wieder. Unsicher nickte ich. „Wie cool! Ich hätte auch soooo gerne Kräfte! Kannst du noch was anderes als die Zeit stoppen?"

Ehrlich gesagt war ich ein bisschen überfordert mit seiner Reaktion. Ich meine, wer glaubte so eine Geschichte auch einfach ohne Widerrede und war dann noch dazu so voller Euphorie?

Erleichtert beantwortete ich ihm seine Fragen, zumindest versuchte es. Bei den meisten seiner Nachfragen blickte ich nämlich selbst nicht durch.
Ich wusste echt wenig von der ganzen Sache, noch nicht einmal wie der Hüter hieß. Meine eigenen Fragen beantwortet zu bekommen, konnte ich gar nicht erwarten.

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Als ich nach der Schule nach Hause kam, lief ich sofort in freudiger Erwartung in mein Bücherzimmer. Und tatsächlich: Dort saß er, genau wie gestern.

„Guten Tag, mein Kind. Wie war dein Tag?", fragte er höflich. Smalltalk? Echt jetzt? 
„Worüber möchtest du denn reden, Maylin?

Kurz wunderte ich mich, wie er zu dieser Frage kam, bis mir einfiel, dass er Gedankenlesen konnte. Mit dieser Vorstellung konnte ich mich noch immer nicht so recht anfreunden. Ich meine, wo blieb meine Privatsphäre?

„Ich habe einen Haufen von Fragen, die ich wirklich gern beantwortet hätte", sagte ich in nicht dem nettesten Tonfall. Einfach mit der Tür ins Haus. Der Hüter lächelte mich jedoch an und sagte: „Gerne doch! Ich werde dir alles so gut ich das kann beantworten. Aber lass uns lieber in der Bibliothek reden, hier ist es zu unsicher".

Es sollte also wirklich auf keinen Fall jemand von dieser magischen Welt erfahren, nicht mal meine Familie durfte zufällig etwas aufschnappen. Beim Gedanken an Seth bekam ich prompt ein schlechtes Gewissen, weil ich es ihm einfach so erzählt hatte. Aber er hatte mir immerhin hoch und heilig versprochen, es unter keinen Umständen jemandem zu erzählen. Mit diesem Versprechen beruhigte ich mich. Ich kann Seth vertrauen.

Der Hüter öffnete wieder das Tor und riss mich damit aus meinen Gedanken. Mit einer einladenden Geste deutete er auf den Durchgang und sagte: „Lass mich dir jetzt endlich alles erklären, Maylin. Ich bin sicher, du wirst eine perfekte Nachfolgerin sein!"

Die Bibliothek (oder auch: die Geschichte aller Geschichten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt