Von atemberaubenden Räumen und Meinungsverschiedenheiten

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Der „Hüter" ging als erster durch das Tor und als er freundlich lächelnd sicher auf der anderen Seite stand, traute auch ich mich zögerlich hindurch. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und ging schließlich ganz rüber.

Die Öffnung schloss sich hinter mir, aber ich war viel zu abgelenkt von dem beeindruckenden Raum, in dem ich nun stand, als dass ich mir Sorgen hätte machen können.

Staunend drehte ich mich einmal im Kreis und ließ die magische Atmosphäre auf mich wirken. In der Bibliothek standen (natürlich) eine Menge Bücher, aber es war viel mehr als das. Es roch nach altem Papier und ein leichter Hauch von Zimt lag in der Luft. Ausnahmslos jede Wand schien aus Büchern zu bestehen und der Parkettboden glänzte wie frisch gebohnert. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch aus massiver Eiche, hinter dem ein herrschaftlicher Stuhl stand.

Das Zimmer war rechteckig, hatte an einer Seite ein Fenster, durch das man auf einen Wald sehen konnte und war ziemlich klein, wie mir nun auffiel.

Verwirrt drehte ich mich zu dem Mann um und fragte: „Das ist die Bibliothek? Ich dachte, sie wäre größer." Er lachte und antwortete mir amüsiert: „Nein, das ist nur mein Arbeitszimmer. Das wäre wahrlich zu wenig Platz für all die Geschichten. Die richtige Bibliothek liegt hinter dieser Tür." Er deutete einladend auf eine Flügeltür, ebenfalls aus Eiche, und ich ging darauf zu.

Gespannt öffnete ich sie. Wenn schon das Arbeitszimmer so fantastisch war, wie würde dann erst der eigentliche Raum aussehen?

Ich trat ein und mein Herzschlag setzte gefühlt einmal aus. Hier waren die Bücher nicht nur an den Wänden untergebracht, sondern auch in wunderschönen Regalen in Form vom Säulen, die überall verteilt standen.

Es hätte unregelmäßig und nervig wirken müssen, wie ein Irrgarten aus Büchern, aber die Säulen waren in irgendeinem Muster aufgestellt worden, so dass alles wie an seinem Platz wirkte. Der Boden bestand wieder aus dem glänzenden Parkett und von der Decke hingen alte Lampen, die alles in altertümlichem Licht erstrahlen ließen.

Ich ging zu einer der Büchersäulen und wollte mir die Titel durchlesen, doch an den dicken Bücherrücken stand nichts. „Das sind die Geschichten, die neu zu uns gekommen sind. Sie müssen noch benannt und einsortiert werden", erklärte der Hüter hinter mir.

Wie langweilig.
„Das ist keineswegs langweilig, mein Kind. Jeder Band verbirgt seine eigene aufregende Geschichte, es ist immer wieder aufs Neue ein Spaß, sie alle zu entdecken"

Erschrocken fuhr ich herum. Hat er gerade auf meine Gedanken geantwortet?! „Tatsächlich hab ich das", sagte er vergnügt. Da, schon wieder! „Tja, ich kann Gedankenlesen, dass ist eine meiner Gaben", sagte er nicht ohne Stolz. Also können Sie das hier hören?
„Ja, in der Tat."
Krass!

„Sie haben gesagt, ich hätte auch eine Gabe, welche ist das?", fragte ich neugierig. „Das weiß ich noch nicht. Deine Kräfte müssen erst aktiviert werden, vorher kannst du sie weder bestimmen noch einsetzen", antwortete er mir.

„Wie aktiviere ich sie? Und welche gibt es so?", ich war mega aufgeregt. Ich meine, wer träumt denn nicht von Superkräften?

„Es gibt viele, einige selten andere gewöhnlich. Wir müssen bei dir abwarten. Die Gaben werden normalerweise durch starke Gefühle aktiviert. Wir werden morgen daran arbeiten", erklärte er und öffnete direkt daraufhin wieder das Tor zu mir nach Hause.

„Können wir das nicht heute machen? Ich bin so gespannt!" Er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Es tut mir leid, aber heute können wir das nicht mehr machen. Deine Familie wird sich fragen, wo du bist, wenn du noch so lange hier bleibst. Du darfst niemandem hiervon erzählen...vorerst zumindest", er deutete auf das Tor und ich ging schließlich hindurch.

Warum darf ich denn niemandem hiervon erzählen? Ich bin mir sicher, dass er meine Gedanken gehört hatte und dennoch nicht antwortete.

Als ich wieder in meinem Bücherzimmer stand und sich das Tor hinter mir schloss, seufzte ich und ging zu meinem Bett rüber. Ich würde jetzt wohl erstmal eine Weile die Wand anstarren und über das Geschehene nachdenken. Obwohl ich ihm glauben wollte, hatte ich doch Zweifel. War das wirklich echt gewesen?

Ich musste eingeschlafen sein, denn meine Mutter weckte mich, als sie wütend in mein Zimmer stampfte. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass es schon spät abends sein musste.

Verschlafen drehte ich mich zu der Furie in meiner Tür um und wartete ab. Wenn sie so wütend war,  würde sie mir den Grund sicher gleich an den Kopf werfen.

„Du hast deine Schuhe schon wieder vor der Haustür stehen lassen, die Mülltonnen stehen da auch noch und die Küche sieht aus wie ein Schlachtfeld! Und was machst du? Hier liegen und schlafen!"

Ich verdrehte die Augen. Ihre Schuhe standen auch immer vor der Tür und in der Küche stand von mir nur der Teller vom Mittagessen. Wenn sie wirklich so schlimm aussah, dann war das mein Bruder gewesen. Nur die Mülltonnen hatte ich tatsächlich übersehen.

Ich sagte ihr all das und entschuldigte mich für Letzteres, das machte sie nur umso wütender.

„Du übersiehst immer alles! Jedes Mal! Und die Sachen deines Bruders kannst du ja auch mal wegräumen", das regte mich nun wiederum auf. Das war so unfair! Normalerweise räume ich immer hinter ihm her und die Tonnen übersehe ich auch nur selten! Das mal wieder typisch, kaum kam meine Mutter nach Hause, musste sie ihre schlechte Laune an mir auslassen und bemängelt deshalb jede Kleinigkeit.

Von dem Geschrei aus meinem Zimmer wurde dann auch noch mein Bruder angelockt, der natürlich seinen Senf dazugeben musste. Jeder versuchte, die Anschuldigungen der anderen von sich zu weisen.

Am Ende schrien wir alle durcheinander und ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich saß in meinem Bett, hatte gerade noch geschlafen und regte mich schon fürchterlich auf.
Mir wurde alles zu viel und ich wollte die beiden rausschicken, aber sie redeten unaufhörlich auf mich ein.

„Stop!", rief ich, damit sie endlich aufhörten. Was sie auch taten.

Es war augenblicklich still.

Totenstill.

Die Bibliothek (oder auch: die Geschichte aller Geschichten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt