Von der Gabe der Zeit und kalten Feinden

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Geschockt sah ich mich um. Meine Mutter und mein Bruder standen wie erstarrt da, als würden wir Stopptanz spielen. Was wir nicht taten. „Mom?", ich ging zu ihr und fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht rum. Sie reagierte kein bisschen und wenn sie nicht noch aufrecht gestanden hätte, hätte ich sie für Tot gehalten. Vorsichtig griff ich zu ihrem Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Da war keiner.

Erschreckt fuhr ich zurück und versuchte, auf die Situation klar zu kommen. Okay, denk rational!! Was ist passiert? Ich sah mich um. Nichts rührte sich, absolut alles war still. Mit geschlossenen Augen lauschte ich. Nichts.
Überleg doch mal! Wenn das kein Streich ist, hat irgendwas alles gestoppt, bis auf dich. Natürlich! Das war es! Ich musste das bewirkt haben, das war meine Gabe! Jetzt musste ich nur noch herausfinden, worin sie lag, warum alles still stand.

Glücklich öffnete ich meine Augen wieder, ich hatte also wirklich Magie! Doch so schnell die Freude gekommen war, so schnell wich sie auch wieder der Furcht, als ich einen Typen zwischen meiner Mutter und meinem Bruder stehen sah. Er war jetzt schon der zweite Unbekannte an einem Tag. Ich musste mein Zimmer echt besser sichern.

Zunächst dachte ich, er wäre auch erstarrt, bis er sich zu mir umdrehte. Fuck, was soll ich machen? Im Gegensatz zu dem freundlichen Hüter sah dieser Mann gefährlich und nicht gerade liebenswürdig aus. Dieses Mal bekam ich echt Angst. War das so jemand, vor dem die Bibliothek geschützt werden musste?

„Sieh an, sieh an. Noch ein Chronokinesist", begann der Fremde zu sprechen. Bitte was? Hieß so die Gabe, die ich hatte? Ich setzte eine verständnislose Miene auf, wie ich es heute schon so oft getan hatte. „Aha, du weißt anscheinend noch nichts von deinem Glück. Liege ich richtig, Kleines?", fragte er grinsend.

Was bildete er sich eigentlich ein? Kleines? Ersthaft? Nun blickte ich ihn wütend an, was er aber nicht merkte. Stattdessen führte er seinen Vortrag fort: „Wir beide, du und ich, haben die außergewöhnliche Gabe, die Zeit zu beeinflussen. Das ist äußerst nützlich, wirklich", sagte er.

Zeitreisen?!

„Leider können wir die Zeit nur in ihrem Verlauf beeinflussen, wir können sie nicht rückwärts laufen lassen. Zeitreisen sind dadurch weiterhin unmöglich. Leider", setzte er in dem Moment seinen Vortrag vor, als habe er meine Gedanken gelesen, was ich nicht hoffte. Zumindest hatte er mir soeben erklärt, was passiert war. Ich hatte lediglich die Zeit angehalten, ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk bestätigte meine Vermutung.

Der Typ war bei seiner Ansprache durch den Raum gelaufen und hatte sich von mir weg gedreht. Ich überlegte schon, wie ich verschwinden konnte und was ich wohl würde tun müssen, um die Zeit wieder zum Laufen zu bringen, da drehte er sich ruckartig zu mir um. Dieses Mal sah ich nicht weg, ich versuchte mutig zu sein. Auch wenn er nicht sympathisch aussah, bisher hatte er noch keinerlei Anstalten gemacht, mich anzugreifen oder sonstiges.

Der Fremde war knapp zwei Köpfe größer als ich, was ihn aber trotzdem klein für einen erwachsenen Mann machte, denn ich war vergleichsweise winzig. Er hatte nur Stoppeln auf dem Kopf, die Straßenköterblond wirkten. Sein Kinn war ebenfalls von Stoppeln bedeckt und seine Augen waren irgendwie ausdruckslos und grau. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig, man sah ihm aber deutlich an, dass er schon viel erlebt hatte. Vermutlich hatte er viele Kämpfe hinter sich. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig, antrainiert, tausend Mal ausgeführt. Keine Emotionen lagen in dem Blick, den er mir nun zuwarf.
Vielleicht war mutig sein und analysieren nicht die beste Idee gewesen, denn nun hatte ich ein noch mulmigeres Gefühl.
Der Mann würde bestimmt vor nichts zurückschrecken, denn dafür bräuchte man Gefühle.

„Du hast noch gar nichts gesagt, Kleines. Willst du mir nicht deinen Namen verraten?", fragte er nun. Zögerlich öffnete ich meinen Mund und formte Worte: „Wer... wer sind Sie?"
„Wer ich bin?", er lachte „Wer ich bin, will sie wissen", er lachte noch mehr. Es klang unecht und einschüchternd und ein bisschen Psycho. Mit geöffneten Armen kam er auf mich zu und ich wich zurück: „Mich nennt man "die Maske", mein Kind".

So wie der Hüter "mein Kind" sagte, klang der Ausdruck nach Geborgenheit und Fürsorge doch die Betonung der Maske löste genau die gegenteiligen Gefühle in mir aus. Er erinnerte mich irgendwie ein bisschen an Käpt'n Jack Sparrow aus Fluch der Karibik, nur ohne den Alkohol.

„Und was wollen Sie hier?", fragte ich, während ich weiter rückwärts lief. Fieberhaft überlegte ich, wie ich hier wegkommen könnte oder wer mir helfen könnte. So cool es auch war, die Zeit beeinflussen zu können, so hatte es doch einen entscheidenen Nachteil: Wenn die Zeit nicht lief, konnte mich niemand vor einem Psycho in meinem Zimmer retten, jeder war erstarrt.

„Ich bin hier, um dir ein unwiderstehliches Angebot zu machen. Als die Zeit plötzlich stehen blieb, wusste ich, dass es noch jemanden mit meinen Fähigkeiten geben muss. So jemanden lasse ich mir doch nicht entgehen", er ging nun in meinem Zimmer umher und sah sich genau um, vielleicht prägte er sich alles ein. Das konnte nichts Gutes bedeutet, daher versuchte ich, seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken: „Was für ein Angebot?" Tatsächlich drehte er sich wieder um und antwortete mit einer Gegenfrage: „Möchtest du mir nicht zuerst deinen Namen verraten?", seine Stimme klang nun einschmeichelnd, er war ein guter Schauspieler.

Er kennt meinen Namen also nicht. Dann weiß er vielleicht auch nicht, wo ich wohne oder wie er mich finden kann.
Als ich nicht antwortete, laberte er weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Ich hatte eine Idee. Er war erschienen, nachdem ich die Zeit angehalten hatte. Die Zeit war angehalten, nachdem ich „Stop" gerufen hatte. Wenn ich also „Weiter" rufen würde, würde sie dann weiterlaufen? Das war die logische Schlussfolgerung, fand ich.
„Weiter!", rief ich deshalb so laut ich konnte. Gespannt schaute ich auf meine Uhr, doch der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Ein spöttisches Lachen ließ mich aufblicken: „Du hast wohl gedacht, du könntest mir entwischen, nicht? Tja, da habe ich schlechte Neuigkeiten für dich, Kleine. Du bist zu schwach, mich wirst du nicht los. Deinen kindischen Plan deute ich so, dass du dich uns nicht anschließen möchtest", er sah bedauernd zu mir herüber, bis er sich blitzschnell auf mich zu bewegte: „Nicht so schlimm! Ich habe so meine Methoden, was ich mit jemandem wir dir mache!"

Ich wollte wegrennen, aber er war zu schnell. Innerhalb einer Sekunde war er bei mir und drückte mich gegen meine Schranktür. Ich schrie um Hilfe, obwohl ich wusste, dass mir niemand würde helfen können. Die Maske umfasste meinen Hals und drückte meine Kehle zu. Das Atmen fiel mir schwer. Mit aller Kraft versuchte ich mich von ihm zu lösen. Ich schlug und schlug, doch sein Griff lockerte sich nicht. Ich sah zu ihm hoch und entdeckte das erste Mal eine Emotion in seinem Gesicht: Spaß.

Meine Gegenwehr wurde allmählich schwächer und ich wollte aufgeben. Ein letztes Mal schrie ich „Weiter". Es war nur ein klägliches Krächzen.

Dennoch war ich mit einem Mal frei und fiel hustend auf den Boden. Meine Mutter half mir beängstigt auf: „Was ist passiert Maylin?? Wie kommst du hier hin?? Geht es dir gut?"

Ich hatte nicht die Kraft, ihr zu antworten.

Die Bibliothek (oder auch: die Geschichte aller Geschichten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt