Cassidy
Ich strecke die Hand aus um den Klingelknopf zu drücken, aber auf etwa halbem Weg stoppe ich in der Bewegung und mein Arm bleibt regungslos in der Luft hängen. Ist mein Vorhaben wirklich so eine gute Idee. Bis vor ein paar Sekunden habe ich es noch für perfekt gehalten. Okay, vielleicht nicht für ganz perfekt, aber für so beinahe-perfekt zumindest. Jetzt aber zweifle ich ziemlich stark an meinem Einfall.
Mich trennen höchstens zehn Zentimeter von der Durchführung meines Drei-Phasen Plans. Ich müsste lediglich an der Haustüre klingeln und Phase 1 würde starten. Allerdings garantiert mir niemand, dass das ganze nicht in einem riesen Desaster enden wird und ich alles nur noch schlimmer mache. Und genau diese Ungewissheit hindert mich gerade daran den Messingknopf zu drücken.
Es ist ein bisschen so als würden in meinem Kopf zwei Stimmen miteinander diskutieren. Stimme eins plädiert lautstark dafür meinen Hintern endlich ins Haus zu bewegen, Stimme zwei hingegen widerspricht dem mindestens genauso heftig und sagt mir, dass ich mich schleunigst davonmachen soll.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass einige Wissenschaftler davon ausgehen, dass in jedem Menschen exakt die gleiche Menge an Gut und Böse steckt. Entscheidend ist nur was davon wir überwiegen lassen. Auf gutdeutsch soll in unseren Köpfen anscheinend ständig ein Kampf zwischen Engelchen und Teufelchen stattfinden.
Sowas habe ich bis jetzt ja immer für absoluten Schwachsinn erklärt. Ich hab daran ungefähr genauso viel geglaubt wie ich an eine göttliche Macht glaube, nämlich gar nicht. Aber gerade kann ich die Schlacht in meinem Kopf ja förmlich hören.
Jetzt klingele doch endlich an der Tür, du kannst hier nicht ewig stehen bleiben!
Nein! Geh nach Hause und kümmere dich um deine eigenen Probleme. Auf deinem Schreibtisch wartet noch ein Berg an Hausaufgaben der bis morgen erledigt sein muss und bei deinen Eltern solltest du dich auch mal wieder melden.
Sei doch nicht immer so egoistisch! Immerhin bist du einer der Gründe warum Liz und Noah Zoff haben. Jetzt mach das wenigstens wieder gut!
Und was ist wenn sie dir die Türe wieder vor der Nase zu schlägt? Dann bist du kein Stück weiter gekommen, sondern hast nur deine Zeit verschwendet. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie mit dir reden will?
Die Beiden sind deine Freunde, du bist es ihnen schuldig!
So ein Quatsch! Lass dich doch nicht schon wieder von Liz anschreien, hast du nicht langsam genug davon? Sie lässt ihre Launen doch immer an dir aus! Sie hat dich doch nie wirklich gemocht. Warum also solltest du ihr jetzt helfen
Denk doch einmal nicht nur an dich! Sie halten dich doch eh alle für eine arrogante Zicke, beweis ihnen das Gegenteil!
Lächerlich!
Du hast doch nichts zu verlieren.
Äh doch! Deine Ehre.
Die Zwei bekommen das dieses Mal nicht mehr von alleine hin.
Na und? Ist das dein Problem, nein!
Ich stoße einen wütenden Schrei aus. Im Haus nebenan streckt ein älterer Herr seinen Kopf aus dem Fenster und schaut mich neugierig an. Na super, wahrscheinlich öffnet mir Liz auch gleich die Tür ohne, dass ich klingeln muss. Ich sollte mich jetzt wirklich mal entscheiden, entweder ich mach die Fliege oder aber ich drück jetzt endlich den verdammten Klingelknopf. Weiter hier stehen bleiben kann ich hier auf jeden Fall nicht, sonst hält mich der Nachbar der Turners noch für einen Stalker.
Hätte ich wenigstens eine Münze bei mir, dann könnte ich die werfen und mir somit die Entscheidung erleichtern. Aber ich Idiot habe meinen Geldbeutel im Café liegenlassen. Streichhölzer ziehen wäre auch noch eine Möglichkeit, aber als Nichtraucher gehören solche nicht zum üblichen Inhalt meiner Handtasche.
"Macht ihnen niemand auf?", will der Rentner von nebenan plötzlich wissen und unterbricht damit meine Überlegungen.
So jetzt muss ich wohl wirklich handeln.
Kurzentschlossen klingle ich:" Äh doch doch. Ich denke schon."
Ich glaube ich werde doch noch schnell gläubig und bete, dass mir niemand öffnet. Meine Hände zittern ein wenig und ich falte sie tatsächlich wie zum Gebet um sie zum Stillhalten zu bringen. Einatmen Cassidy. Ausatmen. Und das ganze wieder von vorne.
"Was willst du denn hier?", ich blicke direkt in das fahle Gesicht meiner Freundin.
Ich war anscheinend so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt habe als die Tür geöffnet worden ist. Liz' Augen sind rot gequollen so als hätte sie eben noch geweint und sie trägt noch immer die Kleidung von vorhin.
"Ich wollte mit dir reden.", erkläre ich meine Anwesenheit und mache, ein wenig zögerlich, einen Schritt auf sie zu.
Liz antwortet mir nicht, schlägt mir aber auch nicht die Tür vor der Nase wieder zu. Stattdessen dreht sie sich um und verschwindet im Wohnzimmer. Was bitte soll das denn jetzt?
Ich hab's dir doch gesagt! Es hat keinen Sinn, sie will nichts von dir wissen.
Geh ihr hinterher. Siehst du denn nicht wie scheiße es ihr geht?
Ich hadere immer noch mit mir selbst, als aus dem Inneren des Hauses ein Schrei ertönt. Der Laut geht mir durch Mark und Bein.
Im Physikunterricht haben wir einmal unsere Reaktionsgeschwindigkeit berechnet, damals habe ich gar nicht so schlecht abgeschnitten. Trotzdem brauche ich jetzt verdammt lange bis sich mein Körper in Bewegung setzt und in den Flur sprintet.
Als ich das Wohnzimmer erreiche, bietet sich mir ein Anblick wie im Horrorfilm. Auf dem weißen Teppichboden ist ein riesiger roter Fleck und auch die Polstern sind mit Blutsprenklern versehen. Mitten drinnen kniet meine Freundin, neben ihr auf dem Boden eine kalkweiße Gestalt.
Mein Gehirn geht blitzschnell alle Möglichkeiten durch, die dieses Szenario hier verursacht haben könnte. Allerdings braucht es ziemlich lange um einen Mord auszuschließen und sich an die todkranke Mrs Turner zu erinnern. Scheiße! Das Blut ist ihres, zumindest übergibt sie sich gerade wieder und ein Schwall roter Flüssigkeit verlässt ihren Körper. Ich bin keine Ärztin, aber ich weiß, dass es definitiv nicht gesund ist so viel Blut auf einmal zu verlieren.
Neben mir schluchzt Liz und versucht verzweifelt ihre Mutter zum Aufstehen zu bewegen. Mrs Turner stöhnt nur immer wieder, vermutlich vor Schmerzen und ich stehe einfach nur da und schaue zu. Zu mehr bin ich gerade nicht fähig.
Ich hab doch von Anfang an gesagt, dass es in einem Desaster enden wird! Du wolltest eigentlich mit deiner Freundin reden, stattdessen schaust du jetzt zu wie ihre Mutter stirbt. Herzlichen Glückwunsch, Cassidy!
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Sterben Muss Man Sowieso
JugendliteraturSie sind wie Pech und Schwefel-einfach unzertrennlich. Noah und Liz gibt es nur im Doppelpack. Schon als Kind haben sie im Sandkasten zusammen Burgen gebaut und den Spielplatz unsicher gemacht. Aber sechzehn Jahre später funktioniert das, bisher bew...