Kapitel 12

22 0 0
                                    

~ Am Ende des Tages ist nur wichtig, dass ein schöner Moment dabei war, der dich lächeln ließ. ~

Mein Blick glitt erneut aus dem Fenster des fahrenden Wagens. Durch die getönten Scheiben des Fahrzeugs war das schnelle Verschwinden des Sonnenlichts gar nicht aufgefallen. Erstaunt über meinen Verlust sämtlichen Zeitgefühls beobachtete ich unsere natürliche Lichtquelle, welche sich zunehmend orange-rot verfärbte und den Himmel hinab glitt. Es musste bereits Abend sein. Mindestens fortgeschrittener Nachmittag, somit neigte sich dieser nervenaufreibende und zugegeben ziemlich verwirrende Tag dem Ende zu.

Wir fuhren gerade einen Hügel auf der schmalen Straße hinunter. Man konnte einige Kilometer in die Ferne sehen. Es war atemberaubend schön. Ein riesiges Waldgebiet erstreckte sich links und rechts, umschloss sie sanft wie eine Umarmung. Wo man hinsah reine unberührte Natur und inmitten der Bäume konnte man einen türkis glitzernden See entdecken. Das kristallklare blaue Wasser eines Flusses, welcher sich durch das saftige Grün zog verlangte ebenfalls nach Aufmerksamkeit. Dies war eindeutig die natürliche und wunderschöne Landschaft Kanadas. Unverkennbar.

Meine ehemalige Heimat, bevor wir zu meiner Oma zogen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz schwoll an vor Glück. Drohte zu zerplatzen. Ich hatte diesen Ort unheimlich vermisst, dies wurde mir mit jedem Herzschlag mehr bewusst. Egal, wie schlimm der Grund war, aus welchem wir hier wegmussten. Dies hier war und blieb unser Zuhause, denn es gab auch viel zu viele positive Erinnerungen an diesen Ort.

Bilder meines früheren Lebens, dem Leben vor dem Verlust meiner Eltern, blitzen vor meinem inneren Auge auf. Bilder von mir und meinem Zwilling, wie wir im Park herumrannten mit vom Eis verschmierten Gesichtern, und unserem Dad, wie er versuchte uns einzufangen. Die zahlreichen Grillfeiern meiner Eltern, bei denen alle Freunde und Familienmitglieder aus der Umgebung zusammenkamen. Mein zuvor angeschwollenes Herz schien, sich bei diesen Bildern nicht entscheiden zu können, ob es Freude über die Heimat oder Schmerzen wegen des Verlustes, den es ertragen musste, empfinden sollte.

Innerlich hin und her gerissen warf ich einen Seitenblick zu meinem Bruder. Dieser bestätigte meinen Verdacht. Ihm ging es genauso. Er hatte die Umgebung ebenfalls erkannt und starrte gebannt aus dem Fenster. In seinen geweiteten Augen war dieses Leuchten zu sehen, welches immer auftauchte, wenn mein Bruder etwas betrachtete, dass ihm sehr am Herzen lag. Ohne seinen alles prüfenden und analysierenden Blick, wirkte er augenblicklich so jung wie er es tatsächlich war.

Leider wurde dies seit dem Tod unserer Eltern ein ziemlich seltener Anblick. Manchmal hatte ich das Gefühl, mit unseren Eltern waren auch große Teile in uns gestorben, denn Alec hatte dieses Leuchten in den Augen definitiv viel zu selten.

Dies versetzte mir einen Stich im Herzen. Und mit diesen Gedanken war die Euphorie, wieder in heimeligem Gebiet zu sein, abgeklungen.

Inmitten dieses Naturparadieses befand sich eine Stadt. Doch war dies nicht ein grauer trostlosen Fleck, welcher die Natur vertrieb. Die Stadt schien in die Natur hineingewebt. Ein Fluss zog sich durch die Stadt. Überall, wo man hinsah, leuchtete das Grün der Bäume oder von großflächigen Parks mit bunten Blumen.

Ich ließ mich zurück in meinen Sitz gleiten und sah auf meine Hände, welche ich in meinem Schoß faltete. Ich freute mich, wieder diese Schönheit von Natur betrachten zu können, doch mit ihr kamen auch einige Fragen auf.

Eine meiner größten Sorgen galt wie so oft Alec. Der Junge neben mir, welcher immer noch gebannt aus dem Fenster schaute, lebte – wie konnte ich es mir schönreden? – seine Gefühle sehr laut und offensichtlich aus. Also wie würde ihn in seiner derzeitigen Verfassung die Konfrontation mit unserer eigentlichen Heimat beeinflussen? Auch wenn er es nie zugeben würde, er vermisste die Zeit wie es früher einmal gewesen ist. Wer würde nicht sein Zuhause vermissen? Seine Familie.

Patriam Academy - Das Erwachen der Wölfe, Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt