Kapitel 1 - Eine Vorsichtsmaßnahme

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I


„So kann das nicht weitergehen."

Professor Carlson sprach wie immer mit sanfter Stimme, aber Sydney kauerte sich trotzdem zusammen und blickte zu Boden. Sie schämte sich sofort dafür – es gab wenig Leute, die so geduldig waren wie er – aber er schien sich an ihrer Reaktion nicht zu stören. Er seufzte nur und lehnte sich zurück, bevor er Sydneys Hefte über den Wohnzimmertisch zu ihr zurück schob.

„Du bist ein cleveres Mädchen", fuhr er fort. „Du könntest das alles mit Leichtigkeit schaffen, aber dazu müsstest du es auch tatsächlich tun."

Sydney nickte nur und starrte weiter den Holzboden an.

„Deine Mutter bezahlt teure Privatstunden und ich muss jedes Mal zwanzig Kilometer mit dem Auto fahren, um so weit nach draußen zu kommen." Er nahm seine Brille ab und wischte müde über seine Augen. „Ich bin sicher, deine Mutter hat dir das schon gesagt, aber in drei Monaten hast du Prüfungen in allen Hauptfächern und wenn du diese nicht bestehst, musst du auf eine reguläre Schule wechseln."

Das wusste sie. Das war das Damoklesschwert, das tagein, tagaus über ihrem Kopf baumelte. Irgendwann würde jemand mit irgendeiner generalisierten Prüfung kommen, sie würde scheitern und dann würde man sie zwingen, jeden Tag in die Stadt zu fahren und dort eine Schule zu besuchen. Mitten in Lärm und Leuten. Der bloße Gedanke daran trieb ihren Puls in ungeahnte Höhen.

Carlson seufzte erneut. „Ich weiß genau, dass du das kannst. Aber ich bin nicht derjenige, der deine Prüfung erstellt oder benotet", erklärte er. „Ich würde auch wetten, du schaffst Literatur und Geschichte aus dem Stegreif. Aber leider gehören auch Mathematik, Physik und Chemie dazu."

„Tut mir leid", flüsterte Sydney nur.

„Es muss dir nicht leid tun. Ich werde bezahlt, ob du nun bestehst oder nicht. Die Frage ist, ob du dann wirklich in einer Schulklasse sitzen möchtest." Ihm schien aufzufallen, dass das Mädchen vor ihm immer mehr in sich zusammenfiel und bremste sich. „Hör mal", fing er neu an. „Auch das wäre natürlich kein Weltuntergang. Es gibt wunderbare Privatschulen in der Nähe, auch solche mit Therapiezentren. Es würde dir dort gut gehen. Die Frage ist, ob du das auch so willst."


Wollte Sydney nicht. Auch lang nachdem Carlson wieder gegangen war, blieb sie am Wohnzimmertisch sitzen und starrte ihre Hefte an. Sie wusste, dass sie etwas tun musste, sie wusste auch, dass sie es vermutlich schaffen würde, aber sie konnte nicht. Sie starrte und starrte, aber ihr Körper reagierte nicht. Nimm den verdammten Stift, herrschte sie sich innerlich an, nimm den Stift, schlag das Buch auf und mach die Aufgaben! Aber nichts. Irgendetwas in ihr sperrte sich dagegen.

Manchmal wünschte sie sich, Professor Carlson wäre ein gemeinerer Lehrer. Einer, der schrie und sie zwang, zu schreiben; der hinter ihr stand und sie antrieb und beschimpfte, wenn sie etwas nicht tat. Vielleicht hätte sie dann mehr zustande gebracht.

Das war natürlich ein dummer Gedanke. So etwas hätte Panikattacken ausgelöst und sie hätte noch weniger geschafft als sonst. Aber er ließ sich nicht so schnell vertreiben. Ein Teil von ihr war überzeugt, all die Freundlichkeit, Unterstützung und Therapien einfach nicht wirklich wert zu sein. Das schlechte Gewissen über ihre eigene Tatenlosigkeit war Sydney unangenehmer als sich schlecht behandelt zu fühlen.


Wenigstens ließ sich ihr Körper dazu antreiben, ihre Schulsachen einzupacken und wieder nach oben in ihr Zimmer zu tragen, wo sie sich sicher fühlte. Wo ihr Computer stand, ihre Nähmaschine und der Wandschrank mit Stoffen und Kostümen. Ein fast normales Zimmer, wenn man das Sammelsurium an Tablettendöschen am Schreibtisch wohlwollend übersah.

Sydney, Ash & MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt