Prolog

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Sydney lernte das seltsame Mädchen zum ersten Mal kennen, als sie gerade mal sechs Jahre alt war.


Es war auf einer Betriebsfeier gewesen. Mama und Papa hatten sie mitgenommen, weil kurzfristig kein Babysitter Zeit gehabt hatte und Sydney langweilte sich schon den ganzen Abend beinahe zu Tode. Es gab keine Kinder außer ihr, alle Erwachsenen redeten über langweilige Sachen und sie konnte nicht einmal spielen gehen, weil ihr Kleidchen so fein und teuer war, dass es nicht schmutzig werden durfte. Sie konnte nur an einem Tisch sitzen, mit den Beinen baumeln, winzige Sandwichhäppchen knabbern (aber nur die, die keine Flecken machten) und alle paar Minuten von irgendeiner Dame in glitzerndem Kleid gesagt bekommen, wie süß sie war.

„Na du bist aber ein entzückendes Mäuschen! Und dein Kleid ist so hübsch!"

Sydney war wohlerzogen genug, um zu wissen, dass man sich für ein Kompliment bedankte. „Danke, deins auch!"

Dasselbe passierte im Verlauf des Abends vier- oder fünfmal, mit leichten Variationen, und wurde nicht spannender. Reiche, alte Leute waren öde, auch wenn ihre Kleider schön glänzten. Irgendwann hielt Sydney es nicht mehr aus und als Papa gerade sehr konzentriert mit einem alten Mann etwas ausdiskutierte, rutschte sie vom Stuhl und fing an, die Halle zu erkunden.

Leider gab es nicht allzu viel. Hohe Tische, leise Musik, Leute mit hohen, dünnen Gläsern in der Hand, die höflich lachten. Der Garten des Hauses wäre vielleicht interessant gewesen, aber Mama hatte ihr verboten, rauszugehen. Außerdem war es sowieso schon dunkel.


Dann fielen ihr aber doch die zwei Leute ins Auge, die am Rand der Halle zwischen zwei der hohen Fenster standen – der eine war ein junger Mann und neben ihm eine junge Frau. Oder zumindest erinnerte Sydney sich später daran, dass es eine Frau gewesen war. Aus Sicht einer Sechsjährigen war man wohl schon mit zwölf oder dreizehn erwachsen, also hatte sie da vielleicht eine falsche Vorstellung.

Sie taten nichts Besonderes. Der Mann redete mit einem anderen Mann, die Frau – oder vielmehr das Mädchen – stand genauso gelangweilt da, wie Sydney sich fühlte, wippte im Stehen hin und her und blickte herum. Was Sydney an ihnen auffiel, war ihr unpassendes Aussehen. Damals hatte sie noch keine Worte dafür gehabt außer komisch.

Der junge Mann war komplett weiß. Nicht sein Anzug, sondern sein Gesicht. Und seine Haare. Vielleicht sogar seine Augen, aber das konnte sie nicht genau sehen. Das Mädchen wiederum hatte kaum schulterlange, feuerrote Haare, greller als Sydney je bei Haaren gesehen hatte. Die zwei Leute stachen in der Menge aus schwarzen Kleidern, feinen Anzügen und zurückhaltenden Farben heraus wie Scheinwerfer in der Dunkelheit – und das war vielleicht nicht sonderlich spannend, aber hier war es das Interessanteste, das Sydney erblicken konnte. Sie beschloss, etwas näher heranzukommen. Das Mädchen war älter als sie, aber die einzige Person hier, die ihrem eigenen Alter am nächsten kam. Vielleicht wollte sie etwas spielen.


Später erfuhr sie, dass ihr dieses Vorhaben das Leben gerettet hatte. Einer der großen Buffettische, an denen sie vorbei ging, fing die Explosion gerade genug auf, dass sie dem Schlimmsten entgehen konnte. Um ehrlich zu sein wusste sie nur aus Erzählungen, dass es eine Explosion gegeben hatte, denn ihre Erinnerung ging exakt bis zu dem Moment, an dem sie auf das rothaarige Mädchen zuging, ihre Blicke sich für einen kurzen Moment trafen und hörte dann einfach auf. Das nächste, woran sie sich erinnerte, war dass sie im Krankenhaus aufwachte und die Welt nur noch aus Schmerz bestand.


Der Abend war das letzte Mal, an dem Sydney ihren Vater gesehen hatte.

Seltsamerweise blieben ihr das rothaarige Mädchen und der weißhaarige junge Mann all die Jahre klar im Gedächtnis. Manchmal war sie bloß nicht sicher, ob sie sich richtig erinnerte. Vielleicht waren sie nur ein Hirngespinst, zwei völlig gewöhnliche Leute, die in ihrer Erinnerung verzerrt worden waren. So etwas gab es. Davon hatte sie gelesen. Sie schob das innere Bild beiseite, versuchte es zu ignorieren, hasste es manchmal dafür, dass es so klar war, während die Erinnerung an ihren Vater mit jedem Jahr dumpfer und dumpfer wurde. Es spielte keine Rolle. Irgendwann war sie sogar überzeugt,dass die zwei Personen gar nicht wirklich existiert hatten. Nur eine Wahnvorstellung. Trauma, von ihrem Gehirn vermenschlicht.


Bis sie über zehn Jahre später dem Mädchen ein weiteres Mal begegnete.


Sydney, Ash & MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt