I
Das war also der Grund, weshalb sich die gesamte Besatzung des Lagers auf der anderen Seite angesammelt hatte. Sydney konnte es nicht gut sehen, aber dort schienen sich mindestens zehn bis fünfzehn Leute zu befinden. Vielleicht mehr. Und bei weitem nicht alle waren Mutanten – mehrere Leute hatten völlig normale Proportionen. Sie standen johlend um Luka herum und diskutierten lautstark etwas, das man von hier aus nicht verstehen konnte.
Ash musste offenbar auch gar nichts verstehen. Ihr entwichen nur mehrere äußerst unflätige Kraftausdrücke, bevor sie vorwärts robbte und mehrmals blinzelte, bevor sie inne hielt.
„Ach verdammt."
„Was ist?"
„Ich seh ohne Brille nicht gut genug. Wenn ich von hier aus versuche, Luka zu befreien, riskiere ich, ihn zu verletzen."
Sie schäumte offensichtlich vor Wut, aber Sydney erkannte auch leichte Panik in ihren Bewegungen – die Selbstsicherheit war verschwunden, stattdessen war Ash fahrig und hektisch. Sie kroch unter dem Wagen hervor, rappelte sich auf, machte Anstalten, loszulaufen, wandte sich sofort wieder um und ging zu Sydney zurück, als hätte sie vergessen, was sie gerade tat.
„Komm", wisperte sie und half dem Mädchen unter dem Wagen hervor. „Bleib in meiner Nähe."
„Das wollte ich!"
„Ja ... ja ... entschuldige, ich bin gerade etwas planlos." Ash verlor mit jedem Augenblick mehr und mehr an Fokus – erneut schossen Lukas Worte von vorhin durch Sydneys Kopf. Sie ist eigentlich noch viel zu jung. „So etwas hab ich noch nie geübt. Ich muss hin und ... nein, warte, wenn du da bist, muss ich aufpassen. Du musst hinter mir bleiben. Das heißt, nein, wenn jemand auf mich schießt, musst du in Deckung gehen, weil du ja nicht kugelsicher bist. Ich ..."
Diesmal war es Sydney, die nach Ashs Hand griff, um sie zu beruhigen – wenn auch teilweise aus dem Wissen, dass sie keine Chance hatten, wenn Ash jetzt die Nerven endgültig verlor. „Ash", flüsterte sie. „Du schaffst das. Okay?"
„Okay." Ash beruhigte sich tatsächlich ein wenig. „Sorry. Es geht schon wieder."
Sie blickten in die Richtung des Baums, an den ihr Bruder gefesselt war – und wenn Sydneys Augen sie nicht täuschten, versuchten die Leute um ihn herum gerade, seinen Panzer mit Brechstangen von ihm herunter zu hebeln. Bis jetzt offenbar vergeblich.
Ash grunzte auch verächtlich. „Mit Brechstangen bekommt ihr das Zeug nicht runter", murmelte sie und schlich ein Stück weiter. „Da müsst ihr euch schon mehr anstrengen."
Sydney entspannte sich ein wenig. Eine unsichere Ash machte sie unsicher, aber eine selbstbewusste Ash gab ihr Halt. Sie musste nur in ihrer Nähe bleiben, dann konnte kaum etwas passieren.
Zumindest dachte sie das, bis sie plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel bemerkte.
Ash sah es auch. Aber vielleicht eine halbe Sekunde zu spät. Sie stolperte, als sie abrupt stehen blieb und den Blick wandte – was aber Sydney überraschte, war die Tatsache, dass es kein langgliedriger Mutant war, der sich von der Seite angeschlichen hatte. Es war bloß ein kleiner, bärtiger Typ mit Karohemd. Sah aus, als würde er im Kundendienst einer IT-Firma arbeiten.
Bis auf den Raketenwerfer, den er gerade über seine Schulter hievte.
Von diesem Moment an ging alles sehr schnell. Zu schnell. Sydney hörte nur den Schrei „Da ist sie! Ich hab sie!", sah Ashs entsetzte Miene und den erschrockenen Blick, den sie ihr gleich darauf zuwarf.
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Sydney, Ash & Monster
ParanormalSydney lebt mit ihrer Mutter auf einem kleinen Anwesen, weit entfernt von Städten oder Dörfern. Dort ist sie sicher davor, anderen Leuten zu begegnen und verbringt ihre Zeit zuhause damit, Kostüme zu nähen, Computerspiele zu spielen oder im Internet...