Kapitel 5

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Ryoichi musterte Utakata intensiver als geplant. Eigentlich sah er noch genau so aus, wie vor einem halben Jahr - heute hatte er zum Glück nicht den unsäglich weit offenen Kimono an, Ryoichi war viel zu müde, um das jetzt handhaben zu können.

"Hast du dich schonmal gefragt", begann er dann langsam, während er sich versuchte zu erinnern, wie man echten Sencha zubereitete, "wie unser Leben aussehen würde, hätten wir es damals nicht geschafft, den Sanbi zurückzuholen?"

Er wusste, dass es unsinnige Gedanken waren, aber er konnte nichts dagegen machen. Sie hatten damals im Krieg eine Mission gehabt und diese zufriedenstellend ausgeführt. Vielleicht wäre Yagura ohne den Sanbi nicht Mizukage geworden. Vielleicht wäre er vor allem nicht so komisch geworden. Jedes Mal, wenn Ryoichi darüber nachdachte, wurde sein Gespür für die Realität ein wenig verzerrt, alles erschien unwirklich und aufgesetzt.

Utakata seufzte leise, sagte aber nichts dazu - es war nur eine rhetorische Frage gewesen, gestellt an das Universum und das Sein.

"Was willst du hier?", fragte er stattdessen, den Blick zum Fenster gewandt, auch wenn er durch die dünnen Lichtstreifen, die die Jalousien durch ließen, nichts sehen konnte, was draußen lag. "Du solltest nicht hier sein."

Ryoichi wollte nicht, dass diese Aussage weh tat, aber er konnte nichts dagegen machen. "Ich mach Tee. Also eigentlich war ich nur in der Nähe, ich dachte, haha, wäre ja voll witzig, ich glaube ich sollte einfach mal wieder vorbei kommen, wer weiß, wie lange..."

Ryoichi hielt in seinen Bewegungen inne, ein urplötzlicher Fluchtreflex setzte ein. Wenn er sich bewegte und vor allem nicht nachdachte, dann konnte er diesen Fehler einfach herunterschlucken und so tun, als wäre nichts gewesen. Utakata hatte Recht. Er sollte nicht hier sein.

"Soll ich gehen?", fragte er, leiser als gewollt. Vielleicht war es anmaßend, an dieser Stelle überhaupt etwas zu fühlen. Vielleicht waren er und Utakata auch nur gute Bekannte und jedwede Emotion unangemessen und zu viel.

Utakata hatte die Augen geschlossen, vermutlich, um seinem Blick auszuweichen. Wie so oft zog er seinen Kopf ein wenig zwischen seine Schultern, wie eine Schnecke die sich in ihr Haus flüchten wollte. "Nein. Ist in Ordnung", sagte er dann. "Es liegt nicht an dir."

"Ach so?", Ryoichi wusste nicht, ob er bitter oder amüsiert klingen sollte. "Also liegt es an dir?"

Utakata verdrehte die Augen, konnte jedoch nicht verstecken, dass seine Wangen etwas Farbe bekamen und ihm die Situation sichtbar noch viel unangenehmer wurde. "Du weißt, was ich meine."

Ryoichi feixte. Das Teewasser kochte, aber er wartete, bis es ein wenig abgekühlt war. "Und du weißt, dass es mir Leid tut, oder?", wollte er wissen.

"Was genau?", fragte Utakata nach. Er hatte die Arme verschränkt, entweder um abwesend zu wirken oder um Abstand zu gewinnen. Vielleicht wollte er mysteriös wirken dadurch, aber auf Ryoichi wirkte es eher, als wüsste er nur nicht, was er mit den Händen machen sollte.

"Was nicht?" Ryoichi zuckte mit den Schultern und schaute auf die Temperaturanzeige des Wassers. Als sie unter neunzig Grad lag, goss er es auf die Schüsseln. Es waren wirklich schicke Teeschüsseln - Porzellan mit handgemalten Kanji. Ryoichi nahm zu Hause als Teeschüssel meist eine leere Verpackung von Instantramen. "Gibt genug Dinge, die mir Leid tun könnten. Such dir was aus."

"Das ist faul", sagte Utakata. "Und irgendwie... auch egal. Ryoichi, wie ich sagte, du bist nicht das Problem. Du kannst gern für den Tee noch hier bleiben."

"Aber danach wirst du mich los?" Ryoichi drehte sich zu ihm um, nur um festzustellen, dass Utakata einen Schritt auf ihn zugegangen war. Ryoichi war definitiv kein Sensor, aber er spürte die Nähe auf der Haut. Früher, als sie noch regelmäßig zu zweit unterwegs gewesen waren, waren Leute immer sehr überrascht gewesen, dass Utakata größer als er war, aber Ryoichi verstand das gar nicht. Von physischer Größe einmal abgesehen, hatte Ryoichi schon immer gefunden, dass Utakata auch mental um einiges besser gestellt war. Er jedenfalls mochte es, zu ihm aufzuschauen und sein Gesicht zu betrachten, die feinen Züge und die goldenen Augen, und sich dann schlecht zu fühlen weil er feststellte dass er starrte, so wie jetzt auch.

Er räusperte sich und reichte Utakata eine der beiden Teeschüsseln. "Keine Sorge, ich werde dich nicht noch einmal früh morgens so plötzlich überraschen." Er grinste, auch wenn er sich elend fühlte , als würde er unter Starkstrom stehen, ohne die Möglichkeit, sich zu entladen.

Utakata lächelte leicht, schaute jedoch wieder zur Seite. "Naja. Wenn du es so früh machst. Oder nachts. Dann ist es unauffälliger." Dann trank er den Tee. Ryoichi wollte ihn darauf hinweisen, dass der noch heiß war, aber er war zu beschäftigt damit, Utakata dabei zuzuschauen, wie es ihn offenbar nicht interessierte, dass er sich gerade den Mund verbrannte.

"Liegt es an deinem Job?", fragte Ryoichi nach. "Also, dass du mich nachts sehen willst." Er grinste unangemessen und Utakata schnaubte gestresst.

"Ryoichi!", zischte er und Ryoichi konnte nicht anders, als leise zu lachen. Utakata wandte demonstrativ das Gesicht ab, die Hand vor dem Mund, als müsste er diese Dreistigkeit erst einmal verarbeiten und Ryoichi hatte keine Scham, ihm dabei zuzuschauen.

"Es ist nicht der Job", sagte Utakata schließlich, betont gefasst, auch wenn er Ryoichi nicht täuschen konnte. Utakata würde über diese Situation noch viel länger nachdenken, als nötig gewesen wäre. Ryoichi wollte ihn allerdings nicht weiter damit aufziehen - das verdrängte nur das eigentliche Thema. Stattdessen nickte er.

"Ja, ja, ich weiß schon", winkte er also ab. Er wusste, dass man nicht überall Dinge einfach so besprechen konnte, wie man wollte, und offenbar gehörte diese Wohnung dazu. Er vergaß immer, wie hoch Utakata durch seinen Posten als Jinchuuriki in der Regierung stand, ohne tatsächlichen Einfluss auf die Politik von Kirigakure zu besitzen. Wie ein besonders scharfes, schönes Schwert, das die meiste Zeit über unangetastet über dem Kamin hing.

"Na ja. Wenn du mal 'nen Moment Zeit haben solltest, bist du auch bei mir jederzeit willkommen. Dann kann ich mich revanchieren. Ich hab vielleicht keinen guten Tee, aber ich kenne mindestens fünf Leute, die in ihren Kellern guten Schnaps anrühren. Absolut legal natürlich."

Utakata lachte ungewollt auf. "Nichts anderes habe ich von dir erwartet."

Ryoichi grinste breit, gab ihm einen Daumen nach oben, schaute zu Utakata, gerade lange genug, dass es wieder ein wenig unangenehm wurde. Er presste die Lippen zusammen, um nicht einem spontanen Impuls folgend wieder irgendetwas Dummes zu sagen, aber fehlende Worte schufen Platz für schamloses Denken in endlosen Kreisen. Er hatte auf dem Frühlingsfest eine Grenze überschritten und jetzt durfte er nie wieder mit Utakata in einem Raum sein, ohne dass es beiden unangenehm war. Ryoichi kippte seinen Tee nach hinten und bereute es sofort. Wie hatte Utakata den schon völlig entspannt trinken können?! Er war jetzt schon seit zwanzig Minuten hier und sie hatten ihre letzte Begegnung noch nicht einmal angesprochen, da waren so viele Worte zwischen ihnen und Ryoichi konnte sie nicht greifen und festhalten, denn wenn sie einmal ausgesprochen waren, waren sie entlassen in die Wildnis und würden schaden anrichten und ihn zerstören. Vermutlich würden sie ewig zwischen ihnen stehen. Aber wenn er, bis er den Tee ausgetrunken hatte, einfach noch hier stehen und Utakata anschauen konnte... Dann war das für den Moment das Beste, was er haben konnte. 

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