Kapitel 9

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Tag eins
Es war Morgen. Dave und Sam hatten den Auftrag, alle zu wecken. Sie waren die ersten, die dies durften. Wenigstens hatten sie Geschmack und weckten uns mit den Klängen von Green Day auf. So wurde der Schlimmste Teil des Tages relativ erträglicher. Ich nahm direkt meine sieben Sachen und ging duschen. Ich war allein, bis die Tür aufgerissen wurde. Durch die Sonne, die hineinschien, konnte ich im ersten Moment nicht erkennen, wer da stand und mich hämisch angrinste. Erst als sie die Tür hinter sich schloss, sich auszog und sich zu mir gesellen wollte, verstand ich was sie wollte. "Lydia, bitte!", versuchte ich sie wegzustossen. Doch sie wollte nicht hören. Jetzt war sie bereits ausgezogen und lief auf mich zu, konnte sie mich denn nicht einfach in Ruhe duschen lassen. Sie stand vor mir und machte sich gerade bereit, um mich zu küssen. Doch ich hatte mich geschickt aus ihrem Griff bereien können. Verwirrt durchlöcherte sie mich mit ihren Blicken. Ich bekam nur ein leichtes Sorry raus, dann hatte ich mich schon umgedreht und war aus der Dusche verschwunden. Ich liess sie ein weiteres Mal alleine zurück. Was war denn bloss los mit mir? Bevor ich weiter denken konnte, sah ich die Antwort auch schon direkt vor meinen Augen. Er. Ich wollte nur ihn. Ich konnte nicht jemanden anderen küssen, wenn ich doch ganz eindeutig nur ihn wollte. Aber es war mir auch klar, dass ich ihn niemals haben konnte. Er war mindestens drei Jahre älter als ich und in seinen Augen war ich nur ein kleiner Schüler, den ihn in eine misslige Lage eingebracht hatte.
Den Blick nach unten gerichtet trat ich in unser Haus ein. Dort erwarteten mich Dave, Sam und Nick auch schon grinsend. Verwirrt glotzte ich sie an. "Na? Wie war's denn unter der Dusche?", kicherte Dave böse. "Wir haben gesehen, wie Lydia dir nachgelaufen ist.", fügte Nick hinzu. Er war immer ganz der sachliche, im Gegensatz zu Dave. "Es ist nichts passiert." Ihre Blicke erstarrten. Sam, den ich wohl sprachlos gemacht hatte, stotterte leise: "A, aber warum denn nicht?" Den wahren Grund konnte ich ihnen natürlich nicht nennen. Was sollte ich also stattdessen sagen? Ich grinste böse, zuckte die Achseln und meinte: "Naja, hab ich alles schon gesehen." Ihre Blicke waren unbezahlbar. Ich kicherte. Sobald ich ihnen die Geschichte von mir und Lydia erzählt hatte, fingen sie an zu lachen. "Die steht ja total auf dich. Biste im Bett echt soo gut?", witzelte Sam. Ich zuckte geheimnissvoll die Achseln und grinste dabei. Sie hatten ja keine Ahnung, warum ich mich überhaupt auf sie eingelassen hatte. Aber das wollte ich ihnen vorerst noch verschweigen.

Heute bestand unsere Sozialaufgabe darin, eine Autowaschaktion zu starten und das Geld, welches wir verdienten, wohltätigen Zwecken zu spenden. Es war keine Waschaktion wie in diesen Amerikanischen Filmen, wo die Mädels halbnackt den Männern die Köpfe verdrehten. Es wurde streng darauf geachtet, dass alles so formell und normal blieb, wie es sein sollte. Die Mädels durften keine Hotpants oder ein unsichtbares Shirt anziehen. Die Jungs kein weisses Shirt, da man sofort durchgesehen hätte, sobald es nass genug war. Und wir wissen alle, dass ich mich da nicht mehr beherrschen könnte.
Die Waschaktion lief gut, bis am Ende des Tages hatten wir beinahe 3'000 Euro zusammen. Das Geld schenkten wir einem Tierheim, welches beinahe vor der Pleite stand, durch uns aber noch zwei Monate länger offen halten konnte. Ich sah es Emma direkt an, sie hatte sich in einen kleinen Hund verliebt. Den Blick, den sie ihm zuwarf, verstand ich auch noch zwei Kilometer weit entfernt. Sie wollte ihn und gab alles, um ihn auch zu bekommen. Ich kannte sie so gut. Unsere Beziehung war zwar kurz gewesen, aber auch intensiv. Ich kannte sie fast so gut wie mich. Der Grund für den Schluss unserer Beziehung war der gewesen, dass ihr Exfreund aufgetaucht war und sie ihn schon lange zurückhaben wollte. Ich verstand sie, deswegen war ich ihr auch nicht böse. Dafür war sie mir auch sichtlich dankbar.

Als wir an unserem Lager ankamen, es war bereits abend geworden, durften erst die Mädchen duschen und später dann die Jungs. Dann wurde gegessen, wobei wir natürlich alle mithelfen sollten. Nach dem Essen hatten wir Freiraum, durften machen, was wir wollten. Es war bereits halb neun Uhr abends. Die meisten hatten sich in ihr Schlafzimmer versammelt und erzählten sich Gruselgeschichten. Da ich mich so gut wie vor gar nichts gruselte, hatte ich das Gefühl., ich wäre nur im Weg gewesen und hätte den Anderen den Spass daran verdorben. Deswegen wanderte ich allein umher. Zuerst wollte ich in den Wald gehen, doch ich überlegte doch ein zweites Mal, ob das überhaupt so eine gute Idee war. Der Wald war voll von Tieren, die ich nicht kannte. Nehmen wir mal an, ich gehe allein in den Wald. Ich werde von irgendeinem Insekt gebissen und bin allein. Was, wenn das Tier dann giftig wäre? Und was, wenn ich dann alleine im Wald sterben musste? Klar, ich hatte einen Drang dazu, mir solche Sachen zu erfinden, jedoch wollte ich das Risiko einfach nicht eingehen.
Ich beschloss also, gemütlich die Strasse entlang zu laufen. Die kleine Strasse, mit der wir angekommen waren, was leer und kalt. Sie war ganz unbewohnt. Nach einer scharfen Linkskurve sah ich eine kleine Holzbank, ich ging auf ihn zu. Nach zirka zwei Metern gab es einen Abgrund. Dieser ging , ich schätze, zirka 500 Meter weit hinab. Deswegen sah man bis unten aufs Dorf, sogar bis zum See, der in der Nähe war. Es sah einfach traumhaft aus. Ich setzte mich auf die Bank und begann zu träumen.
"Eine schöne Aussicht, nicht wahr?", flüsterte jemand hinter mir. Ich erschrak. Ich hätte tief und fest behaupten können, dass ich alleine und für mich war. Aber allem Anschein nach, war ich nicht der Einzige, der sich aus dem Camp rausgeschlichen hatte. Seine Stimme hatte ich nicht erkannt, aber als ich in seine nun tiefgrünen Augen schaute, die vom Vollmond geblendet waren, war mir sofort klar, wer da vor mir stand. Ich erstarrte augenblicklich. Hatte er nicht gesagt, ich würde ihn in unangenehme Situationen bringen? Was sollte denn das jetzt?

Maybe another DayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt