Die Stunde war merkwürdig verlaufen. Er war nervös gewesen. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass ich meinen Blick nicht von ihm lassen konnte. Endlich wusste er, wie sich das anfühlte. Als die Stunde zu Ende war, war ich der Erste, der aus dem Zimmer verschwunden war. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen. Nicht heute. Sobald Lydia herauskam, hatte sie wieder meinen Arm umschlungen. Ich liess meinen Kopf neben ihr Ohr hinab. "Ich konnte uns einen Termin beschaffen, gegen 16 Uhr. Das heisst, wir können direkt los." Sie nickte, ihre Panik war ihr sichtlich anzusehen.
Als wir bei Dr. Philipps angekommen waren, hatte sie meinen Arm immernoch nicht losgelassen. Die Sekretärin, Karin, die hier schon seit Jahren arbeitete, freute sich mein Gesicht zu sehen. Ihre kurzen roten Haare sahen nicht sehr gepflegt aus. Sie sah alles in Allem nicht so gut aus. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie Lydia neben mir sah. "Hallo zusammen! Ihr müsst nicht warten, bitte, geht doch schon hinein." Ihre quirliege Stimme war nicht zu überhören. Ich lächelte ihr dankend zu und wir traten ins Ärztezimmer ein. Es war eigentlich eine Wohnung, aber sie hatten es zu einem Ärztezimmer umgewandelt. Alles war hell und freundlich, wie immer. Doktor Phillipps hatte uns schon erwartet. Er stand direkt auf und schüttelte uns die Hand. Er war klein und hatte wenig Haare. Auf der Nase trug er eine kleine halbrunde Brille. Wir liessen uns gegenüber von ihm auf die Stühle nieder und erst jetzt sah ich seine Sorgenfalten. Er schloss die Tür hinter sich. Langsam kam er auf uns zu.
"Hört zu, ich mache jeden Test, wenn ihr das möchtet, aber man sieht es einfach auf der Rechnung, die zu euch Nachhause kommt." "Das ist kein Problem", versicherte ich ihm. Ich war viel bei ihm, ohne dass es meine Mutter gemerkt hatte. Die Rechnung hatte ich immer verschwinden lassen und sie mit dem Geld, welches wir in die Fluchkasse getan hatten, bezahlt. "Dieses Mal wird es teurer.", erklärte er. Ich nickte. "Dann werde ich es ihr sagen." Er nickte ein Wenig erleichtert. "Na gut, aber das Ergebnis werdet ihr heute nicht bekommen, dafür dauert es zirka drei Tage." Wir nickten nun beide. Dr. Philipps liess Karin holen und wollte, dass Lydia mit ihr ging. Diese tat, wie ihr befohlen. Dann starrte er mich traurig an. "Ich hätte gedacht, dü wüsstest es besser." Damit hatte ich nicht gerechnet. "Es war nicht meine Schuld." Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Seine Augen wurden grösser. "Ich dachte, du und dieses Mädchen..?" "Ja, wir haben miteinander geschlafen, aber bei ihr habe ich ein Kondom benutzt. Sie hat gehört, wie ich Sie angerufen habe und hatte Angst." Er war erstaunt. Ich konnte ihm doch alles erzählen, aber was, wenn er nach der Geschichte mit Herr Miller nicht mehr mit mir reden will? "Es war nicht der Sex mit Lydia, der mir Sorgen macht. Es war der Sex mit...naja, mit einem Mann." Er wurde bleich. Seine Augen waren gross geworden und seine Stimme war nun sehr leise. "Kannst du mir das erklären?" Ich atmete tief durch und erzählte ihm die ganze Geschichte. Dass ich mit Lydia nur zur Ablenkung geschlafen hatte, da mich dieser Mann so fassungslos machte und mich immer wieder enttäuschte. Nur, dass er ein Lehrer war, liess ich aus. Das würde vielleicht noch zur Sprache kommen, vielleicht. Er nickte. "Du bist bisexuel." Ich nickte. Seine Sorgenfalten verschwanden für einen Moment, er nickte und lächelte. Doch dann erinnerte er sich an den Test. "Okay. Zum Glück bist du direkt zu mir gekommen. Wir machen jetzt den Test und am Mittwoch hast du deine Antwort." Ich war richtig erleichtert. Wie locker er das hingenommen hatte...Ich konnte es kaum glauben.
Ich musste in ein Becher pinkeln und Blut abnehmen lassen. Das war nicht so schlimm. Wir verabschiedeten uns von ihnen und gingen. Die nächste Zeit war ich zu beunruhigt, um zu schlafen. Ich wusste, Lydia ging es genau so.In den nächsten drei Tagen war Lydia immer neben mir und hielt meine Hand. Sie nervte mich zwar, aber ich konnte sie nicht einfach weg stossen. Ich ignorierte Herr Miller in diesen Tagen und war immer der Erste, der aus dem Unterricht geflohen war. Ich wollte erst sicher sein, ob ich von ihm krank war, oder nicht. Ich hoffte es nicht, aber wissen tut man ja nie.
Als es Mittwoch war, entschloss ich, das Handy die ganze Zeit angestellt zu behalten. Als endlich das Telefon klingelte, war es Nachmittag. Ich war gerade dabei, mein Essen in der Cafeteria wegzuräumen, als mein Handy vibrierte. Schnell rannte ich hinaus. "Dr. Phillipps?" "Ja, hallo Jonah." Seine Stimme war beruhigend. Er klang gut. "Wie ist das Ergebnis?" "Ist Lydia neben dir?" Er antwortete nicht auf meine Frage, nur warum? War das gut oder schlecht? "Nein, ich hole sie schnell. Einen Moment bitte." Schnell rannte ich zurück und nahm Lydia mit. Ein bisschen unvorsichtig, aber ich wollte endlich das Ergebnis wissen. "Aua!", stiess sie hervor, bis sie bemerkte, dass ich am Telefon war. "Nun, wir sind nun beide hier.", erklärte ich ihm. "Sehr gut. Also, Jonah?" "JA?" Meine Nervosität wuchs. Wenn ich jetzt wirklich krank war, würde ich mit ihm reden müssen. "Du bist Kerngesund, aber sorge nächstes Mal bitte dafür, dass ein Kondom benutzt wird. Auch, wenn du nicht schwanger werden kannst, ist es doch ein Risiko." Ich nickte, mir fiel ein Stein vom Herzen. "Danke, Danke, Danke Dr. Phillipps. Vielen Dank." Ich hörte ihm an, dass er ebenfalls so glücklich war, wie ich. "Kein Problem. Nun gib mir doch Mal Lydia ans Telefon." Ich nickte, verabschiedete mich bei ihm und gab den Hörer Lydia. Sie zitterte am ganzen Leibe. "Hallo?", hörte ich sie. Dann wurde es still. Dann drehte sie sich zu mir um, den Hörer in den Fingern und sie war kurz davor, zu weinen. "Was? Was ist los?", fragte ich sie. Meine Nervosität wurde stärker. "Ich..ich..", stotterte sie. "Was denn?" Totenstille. "Ich...ich bin HIV Positiv."