Kapitel 10

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Er setzte sich neben mich auf die Holzbank und schaute sich einfach nur den Ausblick an. Ich war nervös, was hatte das hier für ein Ziel? Er sagte, ich würde ihn in unangenehme Situationen bringen, aber eigentlich war es nur er, der sich absichtlich in solche Situationen brang. Ich meine, es war seine Idee gewesen, den Unterricht alleine nachzuholen. Und wieder war es er, der sich hinsetzte - mir vielleicht sogar gefolgt war.
Es herrschte Totenstille. Ich war mir sicher, dass er mein Herz klopfen hörte. Er sah nachdenklich aus und blieb einfach nur stumm. Dann unterbrach er plötzlich die peinliche Stille. "Du kannst also kochen?", fragte er. War ihm denn nichts besseres eingefallen? Ich bejahte seine Frage und er drehte den Kopf zu mir. Anscheinend wollte er noch mehr wissen - nur warum? "Naja, als mein Vater gestorben war, war ich noch sehr jung. Meine Mutter konnte das nicht verkraften, weswegen ich den ganzen Haushalt gemacht hatte und meine Schwester aufgezogen habe. Ihr ging es von Tag zu Tag schlechter, weshalb ich echt froh war, wenn sie arbeiten ging. Immer, wenn sie von der Arbeit heimkam, sah sie glücklicher aus und sie schlief einfacher ein. Deswegen hatte ich ihr, als ich in die Orientierungsschule kam, angeboten hundert Prozent zu arbeiten. Es ging ihr auch von Tag zu Tag besser und ich passte unterdessen auf Chiara auf." Er machte grosse Augen. Hatter er mir so etwas etwa nicht zugetraut? Ich blickte zu Boden, denn ich wollte ihn einfach nicht mehr anschauen, dann hätte ich meine Fassung schon wieder verloren. Er nickte nachdenklich. "Du hast es in deinem Leben wohl nicht immer leicht gehabt. Hattest du denn überhaupt eine echte Kindheit?" Ob ich eine Kindheit hatte? Was war denn für ihn überhaupt eine echte Kindheit? Ich zuckte die Achseln. "Naja, wenn meine Mutter zuhause war, durfte ich immer spielen gehen. Natürlich wollte meine Schwester immer mitkommen, aber wir waren immernoch Geschwister. Wir stritten wie Bruder und Schwester und vertrugen uns auch wieder so." "Aber du konntest schon zwischendurch draussen spielen gehen?" Warum um Gotteswillen fragte er mich so aus und was interressierte es ihn überhaupt? Ich nickte. Er sah mir in die Augen und mein Atem stockte. Er sah mich genau gleich an, wie damals im Klassenzimmer. Verdammt. Ich verfiel ihm wieder. Aber er war auch nicht besser, denn er schaute mir immernoch tief in die Augen. Und diesesmal wusste ich es genau; er war näher gerückt. Das war er im Klassenzimmer und jetz gerade auch wieder. Er, nicht ich. Ich hatte gar nichts getan, verdammt nochmal! Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Doch dieses Mal würde ich mich nicht in seinen wunderschönen, vollen Lippen verlieren. Ich wusste nun schliesslich genau, was er vor hatte. Er wollte sich an mich ran machen, mich fast küssen und dann wieder mir die Schuld in die Schuhe geben, damit er keine Probleme mit seiner Freundin bekommt. Bevor er noch näher kommen konnte, schaute ich wieder die Aussicht an und versuchte, ihn abzulenken, indem ich seine Frage beantwortete. "Manchmal, ja." Ich spürte seinen Blick an mir haften und verflucht machte der mich geil. Ich bemerkte, wie ich eine Errektion bekam und tat alles daran, sie zu verbergen. Er rückte mit seinem Kopf noch näher, dann hauchte er mir ins Ohr. "Das tut mir leid für dich. Es muss echt schwer gewesen sein." Ich nickte, unfähig etwas zu sagen. Als ich auf seinen Blick nicht reagierte, schaute er wieder in die Ferne. Dann begriff er, was er gerade getan hatte. Sein Blick wurde nachdenklich. "Komm nicht zu spät zurück zum Camp.", meinte er mir noch, dann war er aufgestanden und die Strasse zurück gegangen. Einige Minuten sass ich noch so da, ich konnte mich nicht bewegen. Meine Errektion verschwand langsam. Aber ich blieb einfach noch so da. Einige Minuten lang und starrte in die Weite. Was war da gerade passiert? Er wollte mit mir reden, und zwar kein Smalltalk, sondern ein richtig tiefes Gespräch. Dieser Mann war ebenso seltsam, wie mysteriös und ich muss wohl nicht erklären, dass ich darauf stand.

Als ich im Camp ankam, waren alle schon um ein Lagerfeuer versammelt. Allem Anschein nach, hatten sie auf mich gewartet. Schnell sass ich mich neben Lydia, da sie die Einzige war, die allein sitzen musste. Ihre Augen funkelten und ich wusste, ich hatte einen Fehler gemacht. Aber ändern konnte ich jetzt da auch nichts mehr. Es gab ein kleines Feuer und alle sassen runtherum dieses kleinen Lagerfeuers. Es war gemütlich. Der Lehrer der Parallelklasse begann mit einer Geschichte. Alle waren still und hatten die Augen auf ihn gerichtet - bis auf ihn. Ich spürte seinen Blick auf mir und konnte nicht reagieren. Mein Blick lag gesenkt ins Feuer. Ich hörte inzwischen gar nicht mehr zu, was er erzählte. Denn durch seinen immer-auf-mir-ruhenden-Blick konnte ich mich gar nicht richtig konzentrieren. In meinen eigenen Gedanken versunken und in der Hoffnung, er würde endlich den Blick von mir nehmen, hatte ich viel zu spät realisiert, dass Lydia meine Hand genommen hatte. Wir gaben uns Händchen. Es war mir unangenehm, ich wollte nichts von ihr und ich fragte mich, wie lange es gehen würde, bis sie dass auch endlich begriff. Aber ich konnte sie nicht einfach so vor den Kopf stossen.

Später, als es bereits halb elf Uhr abends - und damit eigentlich Nachtruhe war, lag ich einfach in meinem Bett. Ich konnte nicht schlafen und nachdenken wollte ich nicht, das wäre zu deprimierend gewesen. Als mich plötzlich jemand aus den Gedanken riss. Ich schaute auf und damit direkt in seine grossen Knopfaugen. Er hatte immer so süsse Augen gehabt und mit seinen dunkelbraunen Haaren passte das perfekt, es war einfach Sam. Wir waren schon lange befreundet gewesen, er war einfach witzig, spontan und mit ihm konnte man Pferde stehlen. Er grinste mich hämisch an, dann flüsterte er mir zu: "Kommst du mit eine Zigarette rauchen?" Kurz musste ich überlegen, ob das so eine gute Idee war, aber im Grunde war es mir auch egal. Ob sie mich nun erwischten, oder nicht. Ich nickte und wir schlichen uns raus. Draussen war alles dunkel, jedes Zimmer, jedes Licht war abgestellt. Sam huschte durch das Camp. Er sah so lächerlich aus, dass ich anfing zu kichern. Er drehte sich prompt um und starrte mich an, dann lächelte er.
Wir liefen etwas die Strasse nach oben, so dass man uns nicht mehr sehen konnte. Dann setzten wir uns auf die unbefahrene, kalte Strasse und entzündeten eine Zigarette für jeden. Ich war froh, dass ich Sam hatte, mit ihm konnte ich mich immer gut ablenken. Wir lachten wie kleine Mädchen und als wir die Zigaretten fertig geraucht hatten, blieben wir noch eine Weile. Keiner von uns wollte ins Haus gehen, anscheinend konnte er genauso schlecht schlafen wie ich. Der helle Vollmond erblickte hinter den dunklen Wolken hervor und die Strassen waren hell beleuchtet. Ich mochte die Athmosphäre, auch wenn es mittlerweile ziehmlich kalt wurde.

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