Die Lektion

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"Liusha", Tao Ren räusperte sich, "Die Legende erzählt, dass die ersten Sandbändiger sie einst am damaligen Rande der Wüste erbaut hatten. Es soll eine prächtige Metropole gewesen sein. Der Handel mit Glas machte uns Sandbändiger groß."
Er deutete ein Kopfnicken an, in Richtung von Glasornamenten, die seitlich am Weg und an den Wänden mancher Häuser angebracht waren. Jetzt erst bemerkte ich, wie sehr Glas hier überall vertreten war. Windspiele aus Glas, die das Licht der Kristalle und der Sonnenlichtschächte reflektierten und streuten, zierten viele der Haustüren und an manchen Plätzen fand man ganze Skulpturen aus Glas.

"Leider gab es viele Neider, auf das Glas und den Reichtum der Stadt. Diebe, Angriffe, drohende Kriege. Die Sandbändiger wollten sich nicht weiter in diese Konflikte involvieren. So taten sie sich zusammen und begruben die Stadt unter Sand. Es war der Untergang der Stadt, wortwörtlich. So erzählt man es sich zumindest. Und nie hat jemand mehr etwas von der Stadt Liusha gehört oder gesehen. Zumindest kein Außenseiter."
Tao Ren schloss die Augen, als würde er den Moment bedeutungsvoller Stille genießen.

Die Stadt und ihre Geschichte (auch wenn ich nicht genau weiß, wie viel davon wahr war) war einfach nur faszinierend und warf mindestens so viele Fragen auf, wie beantwortete. Wie hielten die Mauern dem Gewicht des Sandes stand? Wie funktionierten die Schächte, die die Stadt nahezu in komplettes Sonnenlicht tauchten? Wie war es möglich eine komplette Stadt im Sand verschwinden zu lassen?
"Was ist? Kommt ihr jetzt?", rief ein ungeduldiger Tao Ren unserer kleinen Truppe zu, die komplett in Gedanken vertieft durch die Gegend starrte.
"Wohin gehen wir überhaupt?", fragte Fohr den Sandbändiger neugierig.
"Zu mir nach Hause. Ihr braucht ja wohl eine Bleibe."
"Hast du denn Platz für fünf neue Mitbewohner?", fragte Jun, leicht skeptisch.
Tao Ren zuckte gleichgültig mit den Schultern: "Habt ihr schon mal in einer Besenkammer geschlafen? Mit etwas Druck passt ihr da schon alle hinein."
Der Rest der Gruppe starrte ihn fassungslos an, bis er schließlich tief einatmete.
"Das war nur ein Scherz", klärte er auf, sein stoischer Gesichtsausdruck so ungebrochen, dass ich mich wunderte, ob es anfangs nicht als Scherz gedacht war. 
Nachdem keiner lachte, schüttelte er ungläubig den Kopf und ließ etwas Sand über seine Handhandflächen wandern. 
"Wo kein Wohnraum ist, kann ich jederzeit welchen schaffen."

...

"Hey lass das! Ich will auch!"
"Du hast sie schon genug geknuddelt, jetzt bin ich dran!"

"Sagt wer?"
Eine Horde Kinder tummelte sich vor uns, sie umzingelte etwas was aussah wie ein großes Fellkneul.
Das schildpattfarbene Fellknäuel war etwas kleiner als Sayo in ihrer größenmäßig unbeeindruckendsten Form (Ach ja, wo steckte Sayo eigentlich?). Es hatte eine große feuchte Nase, spitze Ohren und einen aufgebauschten Stummelschwanz. Die Pranken erschienen unverhältnismäßig groß zum Körper.
Eine Bärenkatze, stelle ich nach einer kurzen Begutachtung fest. Trotz der eher unsanften Behandlung durch die Kinder, machte das Tier bemerkenswerterweise keinen Anstand sich auch nur im Geringsten (oder Mindesten?) zu wehren, geschweige denn zu bewegen.
"Mara", murmelte Tao Ren, doch obwohl seine Stimme unter dem Lärm der Kinder fast unterging, horchte die Bärenkatze augenblicklich auf. Mühelos und mit einer inneren Ruhe erhob sich das Tier, wobei die Kinder von ihrem Rücken rutschten, schüttelte sich kurz und trottete gemächlich zu Tao Ren hinüber.
Als die Kinder Tao Ren bemerkten, verstummten sie augenblicklich. Unter schnellem Verbeugen und Entschuldigen huschten die Kinder davon.
"Bei denen scheinst du ja einen gewissen Eindruck hinterlassen zu haben", merkte Fohr amüsiert an.
"Sie finden, mein Gesichtsausdruck sei gruselig", erklärte der Sandbändiger gleichgültig.
"Vielleicht musst du einfach mal versuchen zu lächeln", Chyou zuckte mit den Schultern, doch Tao Ren starrte sie nur an, als hätte sie einen schlechten Witz erzählt. 
"Das hier ist Mara. Sie ist nicht so gefährlich wie sie aussieht", schweifte er schnell vom Thema ab.
Unsere Gruppe, die allesamt an Sayo gewohnt waren, gab sich sichtlich unbeeindruckt.
"Also ich finde sie sieht nicht gefährlich aus. Sie ist süß", durchbrach Chyou die Stille.
"Nun denn, wollen wir hineingehen?"
Er deutete zu einem der Sandhäuser am Wegesrand.

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