Der Besuch

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"Nie wieder! Vergiss es! Ich steig nie mehr auf dieses...", beschwerte sich Zena. Wir waren gerade angekommen, da sprang sie sofort total fertig von Sayos Rücken und ließ ihre Frustration heraus. Sayo selbst hatte sich inzwischen wieder geschrumpft und warf Zena genervte Blicke herüber. Was Jun betraf, den schien das Reisen auf Sayo weniger mitgenommen zu haben.
"Verdammt!", meinte er benommen grinsend, "Das glaubt mir niemand!".
Der Platz, bei dem wir gelandet waren, eignete sich hervorragend zum Übernachten. Neben uns zog sich eine steile Felswand mit unzähligen Höhlen hoch. In den Marmorstein waren zahlreiche Stufen gemeißelt, die sich am Stein entlang nach oben zogen. Wir standen am Fuße von Tiányì, der Stadt mit dem wohl größten unterirdischen Höhlen und Katakombensystem im ganzen Erdkönigreich und zudem wahrscheinlich die mysteriöseste. Die eigentliche Stadt lag auf dem auf dem riesigen Felsplateau. Aus einigen von den Höhlen floss dampfendes Wasser, was eine extrem schwüle Luft um das Plateau herum erzeugte.
"Wir haben noch genug Zeit übrig. Wir könnten Tiányì ja vielleicht einen Besuch abstatten... Ich meine... Die sollen da echt viele heiße Quellen haben. Dann können auch gleich nach einer Unterkunft suchen, wenn wir nicht in einer der Höhlen übernachten wollen...", schlug Jun vor. Oh Mann! Was würde ich nicht alles für ein richtiges Bad geben. Ich hatte genug von Flüssen und Wasserkübeln! Außerdem war ich noch nie bei einer heißen Quelle...

Die Stufen waren ätzend und das beste war, es gab nicht mal ein Geländer. Während Jun und ich uns also die Stufen hochschleppten, flog Zena einfach mit ihrem Gleiter hoch und beobachtete unseren Aufstieg. Sogar Sayo hatte es sich es leicht gemacht und war in einem Satz hochgesprungen (elende Verräterin!). Wie gern ich doch einfach meinen Gleiter genommen hätte und... Nein, das könnte ich nicht bringen. Anstatt als Lügnerin dazustehen, bangte ich hier lieber um mein Leben. Da war schon wieder das schlechte Gewissen...
Oben angekommen rangen wir beide erst mal nach Atem, dieser wurde mir aber gleich wieder geraubt, als ich die gewaltige, majestätische Marmorstadt sah, die sich vor uns auftat. Gewaltige Gebäude waren aus dem Stein gehauen, es war einfach beeindruckend. Überall prangten bunte Stoffbanner und die Menschen verliehen der Stadt ihr Leben. Es waren fröhliche Menschen, die aufgeregt durch die Gassen zogen. Ja, es war beruhigend fröhliche Menschen zu sehen, vor allem nach dem, was wir heute Morgen erlebt hatten. Bei dem Gedanken daran musste ich schlucken. Der Gesichtsausdruck der Mutter wollte nicht aus meinen Kopf. Hoffentlich ging es ihrem Sohn gut. Ihr Tod sollte nicht umsonst gewesen sein. Gedankenverloren ging ich den anderen hinterher durch die Gassen, bis mich Jun mit einem Tipp auf die Schulter wieder in die Gegenwart zurückbrachte. Er wies auf einen Laden an der Seite von dem ein fantastischer Geruch ausging. Mein Magen antwortete mit einem Knurren, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte.

Wir setzten unsere Tiányì Erkundungstour mit je einem neu ergatterten, duftenden Spieß gebratener Tintenscampis fort. Es schmeckte fantastisch, schmolz regelrecht auf der Zunge.
Jun fragte herum, wo wir denn die besten Quellen finden würden. Hierbei spalteten sich anscheinend die Meinungen der Bürger und wir hatten letztendlich eine riesige Liste voller Empfehlungen. Wir entschlossen uns schließlich für die interessanteste: Heiße Quellen in den Höhlen von Tiányì.

Der Eingang war eher unscheinbar klein und so dachten wir, wir hätten uns vielleicht in der Tür geirrt. Ein Schild versteckt an der Seite des Lochs in der Marmorwand überzeugte uns jedoch, dass wir hier wohl doch richtig waren. Dahinter führte eine schmale Treppe tief in den Marmor hinunter, die uns zu einer Gabelung führte. Der eine Gang war mit "Männer", der andere mit "Frauen" ausgeschildert, was in den Höhlengängen irgendwie fehl am Platz wirkte. Hier trennten wir uns von Jun und betraten das Bad.
Es war eine riesige Tropfsteinhöhle, die durch verschiedenste Mineralien in einer irren Farbkombination erstrahlten. Das Licht hier wurde durch viele Laternen und Kerzen erzeugt. Vor uns lag ein unterirdischer See, aus dem Dampfschwaden ausstiegen und die ganze Höhle angenehm erwärmten. Viel los war hier sicher nicht. War wohl wirklich ein Geheimtipp. Wenn ich hier nur nicht mit Zena sein müsste, dann wäre es perfekt.
Wir zogen uns aus und wuschen uns erst mal gründlich, bevor wir ins Wasser konnten.
"Heiß!", fluchte ich leise, als ich das Wasser berührte, aber schnell wich die ungeheure Hitze einem angenehmen Gefühl auf der Haut und ich stieg ganz in die Quelle hinein. Ein paar Meter neben uns badete ein Mädchen, das neugierig zu uns hinüberschaute. Ohne meine Bandagen fühlte ich mich jetzt richtig unwohl und versuchte meine Narben so gut es ging mit Wasser zu bedecken. Das Mädchen schwamm zu uns hinüber und grüßte freundlich: "Hallo, ich bin Kaia, bin hier schon ne ganze Weile... Ist irgendwie frustrierend, wenn man alleine ist. Aber das ändert immer noch nichts daran, dass der Ort hier einfach fantastisch ist!". Sie lehnte sich im Wasser zurück und starrte an die bunte Decke.
"Freut mich, Kaia. Ich bin Mika", antwortete ich. Zena machte keine Anstalten irgendetwas zu sagen, sondern sah nur genervt das Wasser an.
"Das ist Zena", fügte ich für sie hinzu. Kaia legte den Kopf schief und schaute Zena verwirrt an.
"Und? Was verschlägt euch beide hierher?"
"Wir sind auf der Durchreise. War auf jeden Fall keine falsche Idee hier vorbeizuschauen..."
Ich lächelte sie an.
"Ah, Reisende... Ich bin wegen meinem Training hier. Ich bin Feuerbändigerin, müsst ihr wissen. Und hier in Tiányì gibt es eine ganz spezielle Trainingsart, angepasst auf die Quellen und Höhlen. Nur irgendwie finde ich keinen Meister, der mich unterrichten will... nur zahlreiche Erdbändigungsmeister..."
Sie ließ betrübt den Kopf hängen.
"Aber so schnell gebe ich nicht auf!", meinte sie entschlossen.
"Wenn ich fragen darf...", fuhr sie fort, "was ist mit deinen Narben? Das sieht echt schmerzhaft aus.". Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Ich fuhr mir nervös über die Narbe am Hals. Gerade wollte ich den Mund aufmachen, da fiel mir Zena ins Wort: "Sie ist eine Verräterin, deshalb hat sie die Fesseln tragen müssen. Das ist gang und gäbe im östlichen Lufttempel!".
"Ich bin keine Verräterin, Zena, und das weißt du. Ich musste die Fesseln nur tragen, weil mein Vater seine Schuld am Lufttempel nicht mehr begleichen konnte!"
Kaia sah mich geschockt an.
"Das klingt ungerecht...", meinte sie, "Du bist nett. Hast sowas sicher nicht verdient.". Zena schien zu kochen, aber vielleicht war der Kopf auch nur wegen der Hitze so rot.
"Du glaubst ihr mehr als mir?! Ich bin der Avatar! I-ich-"
Es schien Zena nicht zu passen, dass ich mal mehr Aufmerksamkeit bekam als sie. Kaia schien zunächst überrascht, dann schaute sie wütend zu Zena hinüber.
"Es ist mir verdammt egal, ob du der Avatar bist, oder nicht! Ich bilde mir die Meinungen über Leute selbst. Und die Tatsache, dass du der Avatar bist, ändert nichts daran, dass du eine verdammte Zicke bist, die nicht mal die Höflichkeit besitzt andere Leute zu grüßen! Nein, ich sollte es so ausdrücken: Wenn du dich als Avatar so aufführst, dann hast du das Vertrauen der Leute nicht verdient! Arme Welt... Ach ja, kleiner Tipp! Ändere dich! Vielleicht kannst du ja irgendwann diesen unmöglichen Charakterzügen entkommen..."
Sowohl ich als auch Zena starrten Kaia verdattert an. Das hatte ordentlich gesessen. Bestimmt hatte Zena noch nie in ihrem Leben so eine (vor allem so eine akkurate) Predigt zu hören bekommen. Das hatte nie jemand gewagt.
"Komm, Mika. Wir gehen.."
Kaia packte meine Hand und zog mich mit sich zum anderen Teil des Sees. Zena sah aus, als wolle sie uns etwas hinterherschreien, aber sie brachte keinen Ton raus.
"Das war... nicht schlecht", wandte ich mich an Kaia.
"Ja, ich kenn zu viele solche Typen. Die müssen erst mal aufgeweckt werden", meinte Kaia, "Was machst du eigentlich mit der auf Reisen?".
"Das frag ich mich auch manchmal..."
Kaia gab mir ein paar Tipps für die Stadt. Es schien wohl nicht ganz einfach zu sein eine Unterkunft in Tiányì zu finden, aufgrund der vielen Touristen, aber in den Höhlen war immer Platz. Dort wurde es auch nie zu kalt, weil das ganze Plateau durch die heißen Quellen geheizt wurde. Die wichtigste Information war natürlich, wo es die besten gebratenen Tintenscampi gab.

Als ich mich von Kaia verabschiedete und wieder auf den Weg zur Gabelung machte, war Zena erstaunlich nett zu mir. Die Predigt hatte sie anscheinend ziemlich mitgenommen.
Jun wartete bereits auf uns, wie er meinte, noch nicht lange, aber bestimmt wollte er uns nur kein schlechtes Gewissen machen. Wir waren schließlich so lange in der Quelle, dass wir fast schon gar waren.
"Was ist mit Zena los?", fragte Jun mich nach einer Weile. Ich zuckte mit den Schultern.
"Hat sich wahrscheinlich ein bisschen übernommen..."
Ich erzählte Jun, was ich von Kaia erfahren hatte, und wir beschlossen, dass die Höhlen wohl die bessere Lösung wären. Wir genossen noch lieber etwas die Stadt, anstatt in sämtlichen, sowieso schon überfüllten, Gaststädten nach einer Unterkunft zu fragen.
Die Sonne war bereits untergegangen und die Gassen waren mit hellen Lampions beleuchtet. Überall wurde musiziert, gesungen und getanzt. Tiányì schien in der Nacht erst richtig zum Leben zu erwachen. Es war eine Atmosphäre, die jeden Reisenden willkommen hieß.
Wir kauften mir noch schnell einen eigenen Schlafsack (oh nein... noch mehr Schulden bei Jun). Dann machten wir uns auf, um eine passende Höhle zu suchen, wobei wir doch recht schnell fündig wurden.
Boden und Wände waren warm und ein kleines Bächlein Quellwasser floss durch die Höhle. Sayo machte einen recht zufriedenen Eindruck. Sie rollte sich auf einem von Moos bewachsenen Fleck ein und war sofort eingeschlafen. Zena war den Rest des Abends still, das kannte ich gar nicht von ihr. Beschweren würde ich mich darüber sicher nicht. Jun hatte sich vor die Höhle gestellt und trainierte dort Blitzbändigen. Fasziniert schaute ich ihm dabei zu. Es wirkte so anders als sein übliches Feuerbändigen, sein ganzer Körper schien angespannt. Er bewegte sich mit höchster Konzentration und Genauigkeit. Den Blitzen gegenüber, die aus seinen Fingern und Füßen schossen, wirkte er viel ehrfürchtiger.
Ich beobachtete ihn noch ein wenig dabei. Trainieren wollte ich selbst eigentlich auch, aber, wenn ich mich jetzt wegschleichen würde, wäre das zu auffällig. Also kuschelte ich mich in meinen neuen Schlafsack ein und ließ, sodass die anderen beiden es nicht sehen konnten, kleine Wirbelwinde über meine Handfläche ziehen. Meine Augen wurden immer schwerer und schwerer und schließlich war ich eingeschlafen.
Ich träumte von der Mutter und ihrem Sohn, immer und immer wieder kamen die beiden vor. Die Erinnerung wollte mich nicht loslassen. Die Szenen der Hinrichtung liefen in Endlosschleife ab. Dann war ich auf einmal an Stelle der Mutter vor der Menschenmenge und spürte die Peitschenhiebe auf meinem Rücken. Zena schaute unbeeindruckt zu mir herüber. Jun lief auf mich zu, schien aber nicht von der Stelle zu kommen. Auch Yong war da. Er wurde von zwei Imperialen Posten festgehalten und versuchte sich vergeblich zu befreien. Er wandte sich verzweifelt zu mir.
"Mika, lauf!"

Ich schreckte aus dem Traum hoch und hätte mir den Kopf fast an der Höhlendecke angestoßen. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Sinne wieder an die Realität gewöhnt hatten. Doch das, was sie jetzt wahrnahmen, beruhigte sie nicht gerade. Da waren Schritte vor der Höhle. Metall, das gegen Marmor schlug. Viele einheitliche Schritte, die näher und näher zu kommen schienen. Mit einem Mal saß ich aufrecht im Schlafsack und versuchte ihn abzustreifen. Ich griff fast automatisch nach meinem Stab, den ich an die Höhlenwand gelehnt hatte. Sayo, die neben mir lag, war nun auch wach und schaute besorgt zum Höhleneingang.
"...Ich rieche Imperiale Schweine...", knurrte sie. Das Imperium war hier? Warum? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Sie waren hier nicht zufällig unterwegs. Sie suchten den Avatar. Also waren sie hier, um uns einen Besuch abzustatten. Sie hatten uns gefunden...
In meinem Kopf bauten sich irre Fantasien auf, die passieren könnten, wenn sich Zena und das Imperium zusammenschließen würden. Wäre sie dem gegenüber überhaupt abgeneigt? Daran wollte ich gar nicht erst denken. Zena und das Imperium war eine Kombination, die nicht passieren durfte.
"Wer...?", hörte ich Jun hinter murmeln. Die blechernen Schritte waren inzwischen so laut, dass sie ihn anscheinend auch geweckt hatten. Sogar Zena setzte sich abrupt auf. Gerade wollte ich in Richtung Eingang schleichen, als die ersten Imperialen Posten um die Ecke marschierten. Sie kamen zehn Meter vor uns zum Stehen und starrten uns still und emotionslos an. Ich bemerkte, dass ich immer noch in Schleichhaltung war und stellte mich schnell aufrecht hin. Sie schienen wohl darauf zu warten, dass Zena und Jun sich auch erhoben, denn erst dann Teilte sich die Gruppe und ein Mann in Generalsausrüstung trat hervor. Er war kleiner als die meisten der Truppe, was das ganze etwas seltsam wirken ließ. Stolz hob er die Brust, als könnte ihn das größer erscheinen lassen, räusperte sich kurz und erhob dann die Stimme. Eine, die viel zu laut für den kleinen Körper schien.
"Wir verlangen nach Avatar Zena vom östlichen Lufttempel!"
Was ich jetzt tat, tat ich aus Instinkt heraus. Für die Frage nach dem "warum" war keine Zeit. Es schien das einzig richtige. Und so trat ich vor und hörte ich mich selbst sagen:
"Ich bin Zena. Was wollt ihr von mir?"

Avatar - The Traitor's Child -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt