Der Apfel

2.2K 139 3
                                    

Ich krallte mich an den Ast und streckte meinen Arm so sehr, dass ich meinte, er fiele mir gleich ab. Nur noch ein paar Zentimeter fehlten! Der Apfel hing vor mir im Baum, grün und saftig, hoffentlich sauer, so wie ich es mochte. Ich musste nur noch ein bisschen nach vorne rutschen. Was man nicht alles auf sich nimmt, nur für einen kleinen Apfel.
Meine Finger wollten sich gerade um meine Beute schließen, da verlor ich auch schon den Halt.
Irgendwie ist es schade, so kurz zu fallen, wenn man doch so lange gebraucht hat, um hochzuklettern. Mit einem unsanften Knall landete ich auf dem laubigen Waldboden. Etwas stieß einen erschrocken Schrei aus und ich blickte hektisch zu dem Ürsprung des Lautes herauf. Das Etwas war ein Mensch, ein Junge, um genau zu sein. Er starrte mich entgeistert an, als wäre ich gerade aus dem Himmel gefallen. Da musste ich widersprechen, denn es war nur ein Baum. Schnell rappelte ich mich auf, strich mir das Laub von den Kleidern und streckte ihm die Hand entgegen: "Hallo, ich bin Mika, freut mich". Er starrte zuerst auf meine Hand, dann auf mich, dann auf dem Baum, aus dem ich gerade gefallen war.
"Fällst du öfter aus Bäumen?", fragte er mich skeptisch.
"Normalerweise nicht. Ich wollte nur den Apfel...", mein Blick schweifte nach oben, wo der Apfel immer noch, wie unberührt, am Baum hing, "...holen". Ich seufzte. Wenn er doch wenigstens mit mir runtergefallen wäre, aber nein-.
Der Junge musterte mich.
"Du bist seltsam", meinte er kurz und schüttelte den Kopf.
"Und dir geht es wirklich gut? Ich meine, du bist gerade vom Baum gefallen..."
Ich hielt inne, um mich zu vergewissern, dass nichts schmerzte.
"Mir geht's gut", erwiderte ich selbstzufrieden, "wenn du mich entschuldigst, mein Apfel wartet." Gerade hatte ich mich wieder dem Baum zugewandt, da hielt er mich zurück.
"Warte". Er deutete mit zwei Fingern Richtung Apfel und eine Millisekunde später zischte ein greller Blitz aus seinen Fingerspitzen. Erschrocken fuhr ich zusammen. Einen knappen Meter neben mir hörte ich, wie etwas auf den Boden fiel.
"Da hast du deinen Apfel."
Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn unverhohlen anstarrte.
"Du bist ein Feuerbändiger? Wahnsinn! Ich hab noch nie einen getroffen! Aber Meister hat mir so einiges darüber erzählt. Wie fühlt es sich an Feuer zu bändigen? Ist bestimmt praktisch, oder?"
Ich unterbrach mich selbst, da ich merkte, dass ich ihn vielleicht etwas überfragt hatte.
"Tut mir leid", ich strich mir verlegen über die kühle Halsfessel.
"Kein Ding", er zuckte mit den Schultern, während er mich weiter skeptisch musterte, "Du kommst nicht viel rum, oder?"
"Nein, aber deshalb bin ich ja auch-", ich stockte, abgehauen. Fast hätte ich schon wieder zu viel geredet. Ich konnte nicht einfach jedem Fremden, dem ich hier begegnete, vertrauen. Was, wenn er mich zurückbringen würde? Ich erschauderte und schüttelte den Gedanken schnell ab.
"Bist du denn keine Luftbändigerin?", fragte er und wies dabei auf meine Kleidung. Diese Kluft musste ich unbedingt loswerden, wenn ich vermeiden wollte, dass man mich letztendlich noch erkannte.
"Nein, bin ich nicht", mein Blick schweifte auf den Boden, "Wäre ich eine, hätte ich den Apfel mit Leichtigkeit vom Baum geholt, aber ich bin nur eine einfache Nichtbändigerin unter den Luftnomaden.".
"Ach so, ich dachte nur, tut mir leid-. Aber wenn du ein Luftnomade bist, dann könntest du vielleicht den Avatar kennen?", er schaute mich erwartungsvoll an. Ich seufzte.
"Wäre der Avatar bereits gefunden, dann wüsste doch sicher die ganze Welt darüber bescheid. Sowas könnte unmöglich vertraulich bleiben. Also, ich weiß auch nicht mehr als jeder andere auch", antwortete ich wahrheitsgemäß. Doch es schien, als würden ihn meine Worte sehr enttäuschen.
"Wieso suchst du nach dem Avatar?", fragte ich versehentlich laut. Er seufzte und setzte sich auf einen Baumstumpf, die Hände ineinander verschränkt. Ich holte schnell den Apfel, den ich vor Aufregung fast vergessen hätte und setzte mich ihm gegenüber auf den Waldboden.
"Ich will dem Avatar das Feuerbändigen beibringen.", fing er an. Ich biss herzhaft in meinen Apfel.
"Dann musst du wohl sehr gut sein", mampfte ich. Der Junge schüttelte aber nur seinen Kopf.
"Nein, nicht wirklich. Aber wenn nur die geringste Chance besteht, dass ich irgendwie helfen kann, dann-", er stockte als seine Augen auf die Metallringe fielen, die ich schnell hinter meinem Rücken versteckte. "Was sind das für Fesseln? Warum trägst du Fesseln ohne Ketten?". Woher wusste er, dass es Fesseln waren? Sie sahen eher aus wie dicke Reifen, doch es war zu spät, um zu behaupten es handle sich Schmuck. Er griff nach meiner Hand, um das Stück Metall zu begutachten. Darauf war ich nicht gefasst und versuchte schnell meine Hand wieder zurückzuziehen, woran ich jedoch kläglich scheiterte.
"Was hast du angestellt, dass du-?", er musterte mich alamiert, ohne von der Fessel abzulassen.
"Ich? Nichts, ähm, mein Vater. Es ist quasi vererbte Schuld-. Damit ich aus seinen Fehlern lerne und seine Schuld abbezahle. Es ist recht kompliziert..."
Der Fremde grübelte konzentriert.
"Es sind fünf Feuerfesseln, oder? Da dürfte sich was machen lassen."
Er legte seine Finger an meine Halsfessel. Unsicher hielt ich inne. Es klickte kurz, dann spürte ich, wie sich das Metall lockerte. Es brannte, als es sich löste, als wäre das Metall mit meiner Haut verwachsen gewesen. Dann, als ich hörte, wie das Metall auf dem moosbedeckten Waldboden aufschlug, fühlte ich, wie der ungeheure Druck sich löste, ich fühlte mich unbeschwerter. Schon hörte ich, wie sich die erste Handfessel löste. Mein Kopf war mit Fragen und Hoffnung geflutet, sodass ich den Schmerz problemlos ausblendete. Ich fühlte mich so frei wie noch nie. Ich wollte Lachen und Schreien, aber es ging nicht, mir war viel zu schwindlig. Ich fühlte mich mit einem Mal orientierungslos. Alles drehte sich. Dann setzte meine Sehkraft aus und ich hörte nur noch, wie mein Kopf auf dem Waldboden aufschlug.

...

"Mika! Hey Mika, komm zu dir!"
Das war die Stimme des Jungen aus dem Wald. Was war noch gleich passiert? Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich und mit einem Mal war ich hellwach. Die Fesseln! Mit einem Satz richtete ich mich auf und knallte dabei mit meinem Kopf gegen einen anderen Kopf.
"Autsch! Pass doch auf!"
Ja, es war der Junge aus dem Wald.
"Ah", ich rieb mir meinen Schädel, "tut mir leid, ich-". Eine Last, die ich mein Leben lang mit mir herumgeschleppt hatte fehlte, ich fühlte mich so leicht. Konnte es wirklich sein, dass ich das alles gar nicht geträumt hatte? Ich griff nach meinen Handgelenken, dann nach den Fußknöchel und schließlich an meinen Hals. Sie waren weg! Seit ich denken konnte, hatte ich meine Fesseln getragen und jetzt waren sie weg! Verschwunden! Von einem Moment auf den anderen. Nur ein brennender Schmerz der wunden Haut blieb zurück. Doch an diesen Schmerz konnte ich mich gewöhnen, denn ich war frei!
Ich musste wohl einige Zeit lang vor fassungslosem Glück erstarrt dagesessen haben, denn der Junge musterte mich bereits teils besorgt, teils verwirrt.
Schnell befreite ich mich aus meiner Starre und begann die Stellen, an denen früher meine Fesseln gesessen hatten, genauer zu begutachten. Die Haut darunter, die niemals Sonnenlicht gesehen hatte, war strahlend weiß (ich hätte nie gedacht, dass meine Haut noch so viel blasser sein konnte...) und seltsame, regelmäßige, runde rote Mulden bohrten sich in Form von entzündeten Abdrücken in meine Haut. Das würde wohl noch eine ganze Weile zu sehen sein und mich mit Erinnerungen an meine Vergangenheit zeichnen. Aber woher kamen diese seltsamen Abdrücke?
"Das waren sehr ungewöhnliche Fesseln. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Mit Stacheln nach innen."
Ich starrte den jungen Erwachsenen verdutzt an. Konnte er Gedanken lesen?
"Woher weißt du so viel über meine Fesseln?", fragte ich vorsichtig.
"Mein Vater hat Feuerschlösser jeglicher Art produziert und verkauft. Er war ein echter Künstler auf seinem Gebiet. Hätte ich diese simplen Feuerfesseln nicht knacken können, könnte ich mich nicht seinen Sohn nennen", meinte er verlegen. "Ich finde, du hast die Fesseln nicht verdient. Immerhin hast du doch nichts getan."
Ich starrte ihn entgeistert an. Wahrscheinlich stand mein Mund offen. Ja, das tat er. Ich klappte meine Luke wieder zu.
"Danke, ich stehe in deiner Schuld, Fremder. Du hast mir ein Leben in Freiheit geschenkt."
Nein, das konnte ich nicht sagen, das klänge viel zu hochgestochen, also murmelte ich so beiläufig wie möglich: "Ich werde mich bei dir revanchieren! - Verlass dich drauf!"
Er lachte kurz auf.
"Ist nicht nötig. Ich bin übrigens Jun, freut mich!"
Jetzt streckte er mir die Hand entgegen. Grinsend schlug ich ein. Oh doch, ich würde meine Schuld bei ihm begleichen, ob er wollte oder nicht!

Avatar - The Traitor's Child -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt