Die Überfahrt

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"... vom südlichen Wasserstamm, was? Und dann noch in Begleitung von einem Luftbändiger?", der Wachposten musterte uns skeptisch von oben bis unten. Es war der Mann mit der lauten Stimme, der es geschafft hatte, etwas Ordnung in die Menge zu bringen. Verzweifelt versuchte ich gelassen zu wirken, wobei ich inständig hoffte, dass er nichts bemerke. Meinen echten Namen hätte ich nicht sagen sollen, das war viel zu riskant gewesen, aber ändern konnte ich es jetzt auch nicht mehr.
"Das sieht man hier nicht alle Tage. Unsere Brüder und Schwestern aus dem Süden kommen uns nicht oft besuchen, halten unsere Kultur für zu streng und den Weg für zu weit, wie ich glaube. Umso mehr freue ich mich, dass sich das jetzt scheinbar etwas gebessert hat...", er warf mir noch einen prüfenden Blick zu, dann wandte er sich an Yong, wobei er seine Kleidung schief musterte.
"Und Du? Der südliche Lufttempel, was? Das ist auch nicht gerade einen Katzensprung von hier... Ihr beide habt sicherlich einen weiten Weg hinter euch! Aber, dass ihr Bekannte am Nordpol habt...", er stutzte und wies uns ins Innere des Bootes hinein, "Wie auch immer, wir sollten hier nicht zu viel Zeit vertrödeln, nicht dass es zu spät wird! Eine gute Überfahrt euch". Bildete ich mir das ein, oder war da ein kurzer Anflug von Panik in seinen Augen zu erkennen. Schnell übergaben wir ihm das Geld für die Überfahrt und er schob uns hastig an Deck, um sich gleich darauf die nächsten Fahrgäste vorzunehmen. Ein Lufthauch zog an mir vorbei und kam neben mir zum Stehen. Sayo!
"Ihr könnt vergessen dass ich auch nur eine Pfote auf dieses schwankende Stück Holz setzte. Ich flieg nebenher, das ist mir deutlich bequemer!"
Ich musste kichern. Ja, Boote konnte sie noch nie leiden, oder generell alles, was auf dem Wasser schwamm. "Wie du meinst", murmelte ich möglichst leise und unauffällig, während ich mich ein wenig auf dem Deck umschaute. An Bord tummelten sich bereits ein Haufen Leute, recht viel mehr würden hier sicher nicht hinaufpassen, aber die Menschenschlange war auch schon wesentlich kürzer geworden. Yong lotste uns zu einem Platz an der Reling, die nur aus zwei dicken Stricken und ein paar Pfählern bestand, was nicht sonderlich vertrauenswürdig schien, aber dem Anschein nach war das Boot wohl schon einige Jahre unterwegs, wobei die Pfosten wohl schon einiges durchgemacht haben mussten, und sie standen doch noch. Ich setzte mich hinter die Stricke der Reling und ließ meine Füße am Rumpf hinunterbaumeln, unter ihnen nur das tiefblaue Polarmeer. Das leichte Schaukeln der Wellen beruhigte mich, genauso wie der starke, salzige Wind, der mir entgegenwehte. Wie die Leute dieses Boot wohl in Bewegung setzten, so ganz ohne Ruder und Segel?
"Angenehm, nicht wahr?", meinte eine Stimme neben mir.
Yong und ich drehten uns verdutzt zur Seite, dort stand ein Junge, mindestens so alt wie wir, bepackt mit allerlei Jutesäcke. Er blickte wie ich aufs Meer hinaus. Neugierig wanderte sein Blick zu Yong.
"Sag! Was treibt einem Luftnomaden an so einen abgelegenen und kalten Ort, wie den Nordpol? Ich lebe hier schon lange und habe nur selten welche gesehen!", nachdenklich legte er den Kopf schief. Yong lächelte belustigt.
"Wir wollen ein paar Bekannte am Nordpol treffen! Und außerdem", er klopfte mir auf die Schulter, "Wollte sie hier ihr Wasserbändigen etwas verbessern.". Wollte ich das? Daran hatte ich noch nicht wirklich gedacht, aber helfen würde es, nicht wahr? Immerhin musste ich stärker werden, wenn ich mich gegen das Imperium behaupten sollte.
"Du bist auch eine Wasserbändigerin?", meinte der Junge begeistert, "Dann bist du sicher hier, um das Heilen zu lernen!"
"Heilen?", fragte ich verwirrt. Aber das schien er nicht gehört zu haben, denn er redete weiter.
"Ich bin auch Wasserbändiger, musst du wissen! Mach gerade meine Ausbildung zum Krieger, sodass ich den Stamm beschützen kann. Es ist eine lange und harte Ausbildung, aber das nehme ich gerne in Kauf. Aber in den heutigen Zeiten, mit dem Imperium an der Macht...", er seufzte und blickte hinunter zum Wasser, das gegen den Bug schwappte.
"Oh, wir scheinen abzulegen!", Yong deutete auf ein paar Männer, die die Seile lösten, mit denen das Boot am Steg befestigt war. Man hörte einenige eilige Schritte, die über den Holzboden rannten. Und eine Hand voll Männer in Wasserstammskleidern schaarten sich vorne beim Bug und stellten sich gleichmäßig nahe der Reling auf. Schließlich begannen sie zu bändigen und ein heftiger Ruck durchfuhr das gesamte Boot, sodass ich mich am nächstgelegenen Pfosten festkrallte, und wir bewegten uns. Die Wasserbändiger lotsten uns erst langsam aus dem Hafen, dann nahmen sie an Fahrt auf. So steuerten sie also das Boot! Der Fahrtwind peitschte angenehm um meine Ohren und die Gischt spritzte mir ins Gesicht, sodass ich das Salz schon schmecken konnte.
Als der Junge meinen überraschten Gesichtsausdruck sah, musste er grinsen.
"Ja, so kommt man am schnellsten zum Nordpol! Die vier hinten stehenden Männer bändigen das Wasser am Rumpf entlang hinter das Schiff, der dort hinten am Heck lenkt das Schiff und die beiden ganz vorne, die schaffen Hindernisse, wie Eisberge oder Schollen aus dem weg. Das hier galt lange als eine der sichersten Methoden zum Nordpol zu gelangen. Das ist wichtig für unsere Versorgung vom Festland."
"Es galt als die sicherste Methode?", horchte Yong auf, "Heißt das, es ist nicht mehr die sicherste?"
Der Junge senkte den Blick.
"Früher, da konnten wir fast so oft, wie wir wollten zum Festland, aber seit etwa fünf Jahren treibt sich ein riesiges Meeresungeheuer hier herum, viele Schiffe sind verunglückt, manche sind unauffindbar. Wir wissen nicht genau, was für ein Ungeheuer das ist, aber die einzige Möglichkeit, die wir haben ist, dann zu fahren, wenn es schläft, also Mittags. Seitdem sind die Schiffe so überfüllt und alle Leute beunruhigt..."
Er erschauderte und schüttelte dann heftig den Kopf, als wolle er den Gedanken daran so loswerden. Also deswegen schienen alle hier so nervös! Sie hatten Angst, dass das Monster seinen Mittagsschlaf mal verschob. Jetzt wo er es sagte, fiel mir auf, dass die Leute auf dem Boot, seit wir losgefahren sind, viel angespannter waren.
"Die Menschen werden schon unruhiger, weil wir gleich an der Stelle sind, an der das Monster schläft. Seht ihr die Stelle im Meer, dort drüben?"
Direkt vor uns, mitten im tiefen, dunklen Blau des Meeres, war ein riesiger heller Streifen zu erkennen, der in der Sonne zu funkeln schien. Von so weit weg schien er eher unscheinbar, wie eine Spiegelung zwischen den Eisbergen, aber das schien es ganz und gar nicht zu sein.
"Wir fahren über das schlafende Ungeheuer hinweg..?", flüsterte ich fassungslos, als es mir mit einem Mal klar wurde. Der Junge nickte angespannt und richtete seinen Blick wieder nach vorne auf jene helle Stelle im Wasser, die immer näher rückte. Bei den Wasserbändiger vorne am Bug konnte man inzwischen auch die zunehmende Nervosität erkennen. Sie verlangsamten das Tempo des Bootes ein wenig, sodass wir beinahe lautlos dahinglitten. Keiner wagte es nun mehr etwas zu sagen, sie sahen nur beunruhigt auf den hellen Strich, über den sich das Boot nun langsam schob.
Nun sah ich es auch. Der Anblick, hätte mich eigentlich abschrecken sollen, aber als ich den schimmernden, hellen Kopf der langen, drachenähnlichen Schlange unter mir erblickte, so friedlich und verletzlich, wie sie dort unten zu schlafen schien, ging mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Sie ist wunderschön..! Der Anblick berührte mich irgendwie und für einen kleinen Moment war sämtliche Angst in mir verschwunden und ich fühlte mich sicher und geborgen. Was war das nur für ein Wesen? Ich hatte noch nie gehört, dass es etwas derartiges gab. Meine Augen waren auf das majestätische Wesen fixiert und ich konnte meinen Blick erst wieder von ihm lösen, als es wieder nur noch ein blasser Strich unter der Wasseroberfläche war.
Ein unruhiges Gemurmel machte sich langsam auf dem Deck breit und als ich mich umdrehte, merkte ich, dass die Gesichter der Leute von Angst getränkt waren. Sie fürchteten sich vor dem schlafendem Ungeheuer, aber irgendetwas in mir weigerte sich gegen die Vorstellung, dass jenes anmutige Meereswesen so böse war, wie die Menschen vom Wasserstamm es empfanden. Spürten sie denn nicht, dass hier etwas nicht stimmte?
Yong und der Junge schienen über etwas zu diskutieren, aber ich hörte nicht mehr zu, denn meine Gedanken wanderten noch bei dem mysteriösen Schlangenungeheuer.

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