Die Fremde

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Erschrocken blickte ich zu der Frau hinauf, die ihren Griff um meine Schulter noch nicht im Mindesten gelockert hatte. Ihre Finger gruben sich tief in meine Haut, sodass ich meine Zähne fest zusammenbeißen musste.
Die Frau wurde langsam ungeduldig: "Los! Antworte! Wer bist du und woher hast du diesen Gleiter?!".
"Ähm... Ich...", quetschte ich zwischen meinen Zähnen hervor.
"Hören Sie mal", ging Jun dazwischen, "Sie hat Ihnen nichts getan, also lasst sie los und wir können uns ruhig unterhalten!".
Verwirrt sah sie zu Jun hinüber und schnaubte kurz, ließ aber von meiner Schulter ab. Auch wenn ihre Hand nun nicht mehr dort war, spürte ich noch den schmerzenden Druck und unterdrückte den Drang mir die Schulter zu reiben.
"Denkt gar nicht daran abzuhauen!", fügte sie noch nachdrücklich hinzu. Sie war eindeutig vom Westlichen Lufttempel, eine Luftbändigungsmeisterin, vielleicht um die vierzig Jahre. Ich war mir hundert prozentig sicher, dass ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Sie musterte mich mit aufgebrachtem Blick und verwirrt zugleich, als wüsste sie nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollte.
"Wer sind Sie?", fragte ich so ruhig, wie es mir gerade möglich war.
"Tashima. Aber das ist nicht von Bedeutung! Ich habe dich noch nie gesehen, du bist definitiv nicht vom Westlichen Tempel, und dann wäre da noch dieser Gleiter-"
"Das ist richtig, ich bin nicht vom Westlichen, sondern vom Östlichen Tempel. Was den Gleiter betrifft...", ich holte ihn aus der Halterung an meinem Rücken hervor. Tashimas Blick wanderte zu dem Gleiter und sie streckte reflexartig ihre Hand aus, um danach zu greifen, besann sich aber eines Besseren.
"Darf ich?", fragte sie.
Ich nickte ihr auffordernd zu, woraufhin sie ihn behutsam in die Hand nahm und ihn verwirrt blinzelnd abtastete, als traute sie ihren Augen nicht.
"Wie ich vermutet hatte, es besteht kein Zweifel", murmelte sie schließlich und umklammerte den Stab fester.
"Sag schon! Woher hast du ihn?! Wie bist du an ihn gekommen?", Entschlossenheit flammte in ihren Augen auf.
"Es ist meiner! Schon seit ich denken kann! Er hat mal meinem Vater gehört!", antwortete ich ihr, lauter als ich es gewollt hatte.
"Das kann nicht sein! Das ist eindeutig Nyimas Handschrift! Nur sie konnte so schöne Gleiter schnitzen!", warf Tashima ein, "Dein Vater! Hat er ihr das angetan? Sie getötet?! Hat er sich dann den Gleiter behalten, wie eine Trophäe?".
Ihre Augen funkelten so zornig, dass ich instinktiv einen Schritt zurück machte und gegen Juns Brust stieß.
Hatte mein Vater jemanden umgebracht? War es das? Die Nonnen hatten mir nie verraten, was er angestellt hatte, warum er zur Sklaverei verdonnert wurde. Sie hatten mir nie wirklich etwas über ihn verraten. Was wäre, wenn er wirklich jemanden umgebracht hatte? Ich konnte kein Gegenargument finden und allein das war wie ein Schlag in die Magengrube für mich. Dann wäre mein Vater ein Mörder und mein Gleiter seine Mordtrophäe. Verzweifelt biss ich mir auf meine Unterlippe und wandte den Blick zur Seite.
"Ich - Ich weiß es nicht", murmelte ich leise.
Jun legte seine Hand tröstend auf meine Schulter, worüber ich froh war, denn es erinnerte mich daran, dass ich in dieser Situation nicht alleine war.
"Bitte. Mika hat ihren Vater nie kennengelernt. Sie hat nichts damit zu tun!", wandte sich Jun an Tashima.
Nun ja, der ganze Östliche Lufttempel schien überzeugt, dass ich etwas mit meinem Vater zu tun hatte, wieso sollte es bei dieser Frau also anders sein?
Die Narben meiner Fesseln begannen wieder zu brennen und ich versuchte es zu ignorieren. Das war bestimmt Einbildung, weil wir wieder auf das Thema zurückgekommen waren.
Der Ausdruck der Frau veränderte sich jedoch wieder, aus Wut wurde Verwirrung, die Strenge wich aus ihrem Blick und sie trat einen unsicheren Schritt auf mich zu.
"Er hat recht, du wärst zu jung, um ihr damals etwas angetan zu haben. Doch-", sie stockte kurz, "Dein Name ist also Mika?".
Ich nickte kurz, doch sie trat nur einen weiteren Schritt weiter auf mich zu, und griff mit der einen Hand nach meinem Unterkiefer.
Gerade wollte ich Einspruch einlegen, doch sie drehte nur meinen Kopf leicht zur einen Seite, dann zur anderen. "Was-?"
"Keine Sorge, ich tu dir nichts!"
Sie musterte eindringlich mein Gesicht, dann meine Augen. Bis sie schließlich meinen Kiefer langsam wieder losließ und einen vorsichtigen Schritt zurückging.
Sämtliche Strenge war nun aus ihrem Gesicht gewichen und mit ihr auch sämtliche Farbe.
"Du... Wie alt bist du?", fragte sie, ihr Gehirn ratterte sichtlich.
"19. Ich bin 19", antwortete ich verwirrt.
Tashimas Augen weiteten sich überrascht und im nächsten Moment wanderten ihre Mundwinkel nach oben und sie begann zu lachen.
"Das ich das nicht gleich gemerkt habe! Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist die Antwort so klar!"
"Was ist klar?", hakte ich unruhig nach.
Tashima lächelte warm: "Du hast ihre blaugrauen Augen und ihre Gesichtszüge. Nur deine schwarzen Haare... Der Gleiter, er ist nicht von deinem Vater. Du hast ihn von deiner Mutter! Du bist Nyimas Tochter!"

Avatar - The Traitor's Child -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt