Der Hüter

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Eine Stille durchzog den Raum, als meine Gefährten und ich entgeistert zu dem riesigen geflügelten Wesen, das sich schemenhaft aus dem Schatten erhob, starrten. Yongs Kinnlade fiel fast zu Boden und sowohl Jun als auch Ruolan nahmen eine defensive Kampfhaltung ein.
Je länger wir in dieser Schockstarre ausharrten, desto größer und einschüchternder wirkte die Eule, die uns kritisch von oben herab musterte, als erwäge sie, ob sie uns nicht gleich essen sollte.
"Ich warte!", warnte das Wesen mit tiefer hallender Stimme.
Die erste, die das Wort ergriff, war Fohr. Als sie hervortrat, schien ihre Ausstrahlung überraschend gelassen und eine gewisse Faszination funkelte in ihren Augen.
"Du bist der, der zehntausend Dinge weiß! Du bist Wan Shi Tong!" Die Wasserbändigerin verneigte sich hastig, bevor sie sich mit einem breiten Grinsen, das auf ihr Gesicht gepflastert war, wieder aufrichtete.
"Ich habe so viel von dir gehört, viel vages und und viel an den Haaren herbeigezogenes versteht sich. Die Leute haben sicher eine blühende Fantasie, wenn sie eingeschüchtert sind. Mein Name ist übrigens Fohr, und das sind meine Freunde."
Sie drehte sich rasch um, ergriff mein Handgelenk und zog mich zu sich vor.
"Das ist Mika. Du musst sie kennenlernen. Sie ist der Avatar, die Brücke zur Geisterwelt. Da müsst ihr doch sicher gut miteinander auskommen, oder?"
Überrumpelt stand ich nun neben Fohr, von nahem sah das Geisterwesen noch etwas bedrohlicher aus und ich unterdrückte den Drang mich wegzuducken. Schnell warf ich Fohr einen warnenden Blick zu, der aber wohl eher flehend wirkte. Sie ließ sich davon aber nicht beirren, als hätte sie einen Plan in der Tasche. Egal was für ein Plan das auch war, er würde mir sicher nicht gefallen. Ich wandte meinen Blick von Fohr ab und lächelte unbeholfen zu Wan Shi Tong hinüber, der das Spektakel mit einem unbeirrten, gar stoischen Blick über sich ergehen ließ.
"Tag auch", grüßte ich kleinlaut.
Wan Shi Tong kniff seine riesigen pechschwarzen Augen kritisch zusammen.
"Nur weil der Avatar als die Brücke zur Geisterwelt bekannt ist, heißt das noch lange nicht, dass er auch von allen Geistern akzeptiert wird. Wirst du von allen Menschen akzeptiert, Mädchen? Selbstverständlich nicht, also warum sollte das für Geister nicht genauso gelten. Ich wiederum akzeptiere niemanden, der in mein Reich eintritt und droht mein Eigentum zu zerstören."
Die Eule funkelte Yong flüchtig an, der bis auf ein nervöses Zucken erstarrte.
Jun, der sich mittlerweile wieder etwas gefasst hatte, war neben Fohr getreten und räusperte sich kurz.
"Dieses Eigentum hier", er riss das Buch aus Fohrs Hand, "enthält Informationen, die in den falschen Händen katastrophale Folgen haben können."
Wan Shi Tong fixierte das Buch.
"Es wird hier nicht in falsche Hände kommen. Die Reisenden, die meine Bibliothek aufsuchen, sind hier, um ihre ungebändigte Neugier und ihren Durst nach Wissen zu stillen. Hier treffen sich Leute mit den gleichen Interessen und dem gleichen Bestreben: Mehr zu lernen. Gleichgesinnte. Leute, die Wissen suchen dürstet es nicht nach Krieg oder dem Schaden anderer, sondern nach Verständnis, Antworten, Geheimnissen und Lösungen. Bildung ist der Weg Konflikte zu umgehen und bessere Lösungen zu finden."
"Und genau da irrt ihr euch!", warf eine aufgebrachte Ruolan ein, "Diese Bücher waren bereits in den falschen Händen! Hier, in genau dieser Bibliothek! Das Wissen, das sie vermittelt haben, hat bereits Schaden angerichtet und wir sind dabei zu verhindern, dass sie noch mehr desgleichen tun. Das Imperium hat die Bücher gelesen und genug Wissen erlangt, um die Person aus dem Weg räumen zu können, die sich ihnen in den Weg stellen kann, den Avatar. Auch wenn viele Leute von ihrer Neugier hierhergeführt werden, in der Kriegsführung ist Wissen mindestens genauso begehrt und umso fataler. Kenne deinen Feind, das sagt man nicht umsonst so."
Die pechschwarze Eulengestalt vor uns begann sich zu krümmen, als erlitte sie Schmerzen und stieß ein wütendes, eulenhaftes Kreischen aus. Der kurze Moment, in dem das sonst so stoische Wesen seine Geduld verlor, ließ einen fast Mitleid empfinden. Sein Schmerz und seine Unruhe schienen den Raum zu erfüllen, gewährten eine tiefere Einsicht, dass auch dieses groteske Wesen vor uns verletzlich war. Als der Geist seine Fassung wieder gefunden hatte, schien seine Stimme noch düsterer als zuvor, was die Anderen zusammenzucken ließ.
"Also das ist der Dank für die Hingabe und das Wissen, das ich seit Generationen an wissbegierige Menschen weitergebe? Törichte Menschenwesen, die das Wissen für ihre verschlagenen Zwecke missbrauchen? Solche Wesen haben in meiner Bibliothek nichts verloren."
Ich holte tief Luft.
"Du fühlst dich betrogen, nicht wahr?", erhob ich meine Stimme, meine Furcht und Unsicherheit wie weggeblasen. "Ja, es wird immer Menschen mit schlechten Absichten geben und nicht immer sind ihnen selbst diese Absichten bewusst. Aber das heißt noch lange nicht, dass alle Menschen so sind. Trotzdem, manches Wissen sollte lieber unzugänglich bleiben. Dir ist bewusst, dass wir nicht zulassen können, dass diese Bücher wieder in falsche Hände geraten?"
Die Eule musterte mich mit einer gewissen Neugier und schloss schließlich ihre großen schwarzen Augen.
"Das ist mir sehr wohl bewusst. Trotz alledem, zerstören lassen werde ich euch die Bücher nicht. Ich werde sie an einem sicheren Ort verwahren. Einem Ort zu dem kein Sterblicher Zugriff hat."
Der Geist streckte seinen Nacken und drehte ihn in einem ungesunden Winkel, sich in dem Gewölbe umschauend. Dann, mit einer anmutigen Bewegung seines nachtschwarzen Flügels, ließ er zunächst das Buch in Juns Hand und dann alle mit dem Siegel des Imperiums gekennzeichneten Bücher ins Nichts verschwinden, als wären sie von der Dunkelheit seines Flügels verschluckt worden.
"Zufrieden, Menschenwesen?", wandte er sich wieder an uns, den Kopf schief gelegt, was eher etwas Bedrohliches an sich hatte.
"Was meine Bibliothek betrifft, werde ich die Kontrolle durch meine Wissenssucher und Gehilfen erhöhen. Ich werde sichergehen, dass das Wissen nicht mehr für solch abscheuliche Zwecke verwendet wird. Niemand wird mehr mit meinem gesammelten Wissen Schaden anrichten. Seid gewarnt, solltet ihr abermals planen meine Bücher zu zerstören, werde ich keine Gnade walten lassen."
Mit diesen Worten und einer weiteren flüchtigen Bewegung seines Flügels, verschwand Wan Shi Tong in den Schatten, wie ins Nichts, nur ein entfernter Flügelschlag war noch zu hören.
Wie auf ein Kommando atmeten alle Anwesenden wieder auf, als hätten sie die ganze Begegnung über nicht gewagt auch nur einen Luftzug zu nehmen. Chyou hinter mir sackte in ihre Knie. Die ganze Zeit über hatte sie nichts gesagt, was eigentlich überhaupt nicht ihrem Charakter entsprach.
"Hat da jemand Angst vor Geistern?", zog Yong sie auf.
"Hab ich gar nicht!", verteidigte sie sich schmollend.
"Sayo ist auch ein Geist, weißt du? Du musst wohl während der ganzen Reise vor Angst gestorben sein."
Diese Bemerkung kostete Yong einen blauen Fleck in der Magengrube.
"Das- Das ist etwas anderes!"

Avatar - The Traitor's Child -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt