Schicksal (6)

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Die eine Woche verging wieder im Schneckentempo und ich war sehr unzufrieden mit meinem Leben.
Jede Minute musste ich an ihn denken, jedes Mal in einer gebrochenen Hoffnung.
Ich machte mich auf den Weg und setze meine Routine fort.
Die Bahn fuhr und ich zuckte ungeduldig mit meinem Bein.
Dann stieg er ein und als ich freudig zu ihm sah, merkte ich nur wie er mich ignorierte.
Ich war verletzt.
Er setzte sich mit dem Rücken zu mir, sodass kein Augenkontakt zwischen uns herrschte.

Die nächsten Wochen vergingen genauso. Er sah aber ab und zu zu mir und manchmal setzte er sich wieder zu mir.

Ich versuchte ihn aus meinem Herz, aus meinem Verstand zu streichen, doch es war unmöglich.

Heute war es die 12. Begegnung.
Er saß am selben Platz, ich saß am selben Platz.
Doch diesmal konnte ich spüren das etwas anders war.
Zentimeter entfernt saß er vor mir und die Bahn hielt an der nächsten Station an.
Er sah mich diesmal wieder nicht an.
Er blickte zu Boden.
Was war nur los mit ihm?
Sollte ich endlich meinen Mut zusammenpacken und fragen?
Zögernd fragte ich leise "Ist alles in Ordnung mit dir?"
Zunächst kam keine Reaktion von ihm.
Dann blickte er auf, seine grünen Augen waren mit einem Schimmer von Trauer und Verzweiflung gefüllt.
"Ich werde heiraten", flüsterte er.
Mein inneres zog sich zusammen. Ein stechen in der Brust und eine kurze Atemnot folgte.
Meine Welt brach zusammen.
Ich spürte die Nässe an meinen Augen.

Ich stand sofort auf, nahm mit voller Wucht meine Tasche.
"Mein Glückwunsch", brachte ich leise noch mit relativ ungebrochener Stimme heraus.
Doch dann rannte ich aus der Bahn, als ich bemerkte das es angehalten hatte.
Ich weinte und die Leute waren wütend, da ich sie rücksichtslos überrempelt hatte.
Ich weinte, ich weinte für diesen einen Jungen, dessen Name ich nicht einmal kannte..

War das der Grund für seine Abwesenheit?
War das fair? Hatte er denn nicht Gefühle für mich?
Ich rannte die Treppen runter und verkroch mich in einer Toilette am Bahnhof.
Ich weinte und schluchzte.
Wieso habe ich sein Verhalten nicht verstanden?! Er war doch so anders in der letzten Zeit?

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Monate vergingen, ich nahm nicht mehr die selbe Bahn, dass konnte ich mir nicht antuhen.
Mittlerweiler gestand Kenan mir seine Liebe und bejahte es.
Ja ich kam mit Kenan zusammen, aber nicht aus Liebe, sondern durch die Freundschaft.
Er stand mir bei, bei meiner so schwierigen Zeit, unternahm er etwas mit mir und brachte mich auf andere Gedanken. Nach einer Weile klappte es auch.
Wie naiv und dämlich ich doch war.
Da unsere Familien von unserer Beziehung wussten, stand meine Verlobung vor der Tür.
Es war schon groß für eine Verlobung.
Circa 150 Gäste erwarteten wir.

"Kizim, du hattest doch eine Kindheitsfreundin Kismet, Sie kommt auch mit ihrem Ehemann", teilte mir meine Mutter erfreut mit.

"Sie hat geheiratet?", fragte ich überrascht.
"Ja, wir konnten ja nicht auf die Hochzeit, weil wir im Urlaub waren", sagte sie.
Stimmt, vor zwei Monaten gab es so eine ähnliche Geschichte.

Die Vorbereitungen liefen und die Zeit strich wie im Flug.

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Ich stand mit Kenan vor den ganzen Gästen und unsere Ringe wurde uns angesteckt.
Kenan strahlte, ich erkannte die Freude in seinen Augen.
Ich lächelte, er war so glücklich und das nur wegen mir.
Ich blickte in die Runde und mein Blick hing an einer Person.
Ich erstarrte.
Er saß genau vor mir. Er war da. Er war auf meiner Verlobungsfeier.
Meine Augen füllten sich. Er spannte sein Kiefer. Seine Augen funkelten nicht mehr.
Eine Träne lief über meine Wangen.
Weitere Tränen folgten.
Als ich das klatschen wahrnahm erwachte ich.

"Schatz, wieso weinst du?", fragte Kenan mich besorgt.
"Das- Das sind Freudestränen", log ich in einer brüchigen Stimme.
Er nahm mich in den Arm und küsste mich auf die Stirn.
Schnell löste ich mich von ihm und sah auf den Tisch.
Nun saß er nicht mehr da.
War es etwa eine Einbildung? Eine Hoffnung?

Doch im nächsten Moment packte mich eine Hand und er stand vor mir.
Meine erste große Liebe stand vor mir und wir beide trugen Ringe.

Er trug seinen Ehering und ich meinen Verlobungsring.
Das war anscheind unser Schicksal.
Zwei liebende getrennt durch diese Ringe.
Ich lächelte ihn an und er blickte zu mir.
"Ich hoffe du wirst glücklich, du hast es verdient", flüsterte er in meinen Ohr.

Plötzlich kam jemand auf uns zu.
"Sibeeel, du hast ja schon meinen Mann Tufan kennengelernt, mein Glückwunsch", sagte eine quietschende Stimme.
Ich sah zu ihr.
Kismet.
Kismet und Tufan.
Schicksal.
Meine Kindheitsfreundin hatte mit meiner Liebe geheiratet.
Mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel in die Arme von Tufan.

Dieser eine Junge aus der BahnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt