„Denn nur du stirbst zuletzt, schenkst uns den Glauben an uns selbst und dass Morgen
alles besser wird als jetzt, du nimmst uns die Schmerzen von heute,
du wunderschöne Hoffnung, oh du wunderschöne Hoffnung" - Kontra K- Vor neun Monaten -
CASSIAN
Wieder einmal saß ich in der Bibliothek und stöberte in den Büchern, die die Welt vor LUMIS beschrieben. Ich war kein großer Fan der Regeln und dem generellen Konzept von LUMIS. Natürlich war ich glücklich in einer Welt leben zu dürfen, die ohne Gewalt, Krankheiten und den sonstigen Tücken, wie die Welt außerhalb der Kuppel beschrieben wurde, leben zu dürfen, aber ich gab dafür etwas auf. Etwas, das mir wichtiger als Sicherheit war. Meine Freiheit.
Doch als Teil von LUMIS konnte man mit niemanden über solche Gedanken reden, da die Gefahr viel zu groß war, dass diese Person, egal wie sehr man ihr vertraute, dieses Vergehen melden würde und was dann geschah, wollte ich mir nicht ausmalen. Auch wenn mich dieser Gedankengang störte, da er mir nur das bestätigte, was auf die gesamte Gesellschaft zutraf. Ich war schwach und ging den leichtesten und zugleich ungefährlichsten Weg.
Der Selbsterhaltungstrieb der Menschheit war größer als das Verlangen nach Freiheit, doch ich wollte diesem Konzept entfliehen. Seit zwei Monaten war ich einer Spur auf den Fersen, die mir möglicherweise das Leben - oder noch schlimmer meine Erinnerungen - kosten würde. Aber ich ging das Risiko ein.
„Cassian", hallte eine erfreute Stimme durch die Stille der Bibliothek. Nur eine Person, abgesehen von mir, ging in eine Bibliothek. „Kleines", erwiderte ich mit einem Glucksen, ohne mich umzudrehen. Ich wusste genau, dass Mila es hasste, wenn ich sie mit diesem Kosenamen ansprach.
Für einen kurzen Moment war die Stille in der Bibliothek so bedrückend, dass ich meinen Atem und einen Luftstoß vernahm. Etwas verwirrt darüber, von wo das Geräusch kommen mochte, drehte ich mich um, was sich als Fehler entpuppte, da mich eine Zeitschrift mit erheblichen Tempo im Gesicht traf. Aua. Perplex starrte ich auf die Hand, die die Zeitschrift hielt. Eine zierliche und äußerst filigrane Hand, bei der ich Angst hatte sie zu zerbrechen, wenn ich sie zwischen meine große Hände nehmen würde.
„Oh Gott, ist deine letzte Gehirnzelle nun auch durch den Schlag abgestorben?", fragte die herausfordernde Stimme, die zu der zierlichen Hand und dem allgemein sehr zierlichen Körper gehörte. Ich sprang schmunzelnd auf, wodurch Mila einen Schritt zurück machte, doch meine langen Beine waren im Vorteil. Mit einem großen Satz war ich bei ihr und schlang meine Hände um ihre schmale Taille, ehe ich sie hochhob und mir über die Schulter warf.
Kreischend trommelte Mila mit ihren kleinen Fäusten auf meinen Rücken, während ich die, aus Holz gefertigte, Wendeltreppe hinauf lief. Mit zielstrebigen Schritten steuerte ich den Balkon im ersten Stock an. Die Bibliothek war einer der wenigen Orte, die nicht von LUMIS angerührt wurde. Hier dominierten bräunlichen Farben und altes Holz sowie filigrane Schnitzungen die Einrichtung. Ich öffnete die Glastüren zum Balkon und die Kälte der Welt empfing mich wie ein alter Freund. Tief atmete ich den Duft des Winters ein, der bereits bald durch den Frühling verdrängt werden würde, was durch das Vogelgezwitscher und einzelne Knospen an den kahlen Bäumen angekündigt wurde.
„Was hast du vor?", fragte Mila. Ihre Stimme war leise und ich konnte wieder einmal die Angst vernehmen, die die junge Frau fest im Griff hatte. „Ach, eigentlich wollte ich dich vom Balkon schmeißen", scherzte ich, wofür ich mir - einen wohlverdienten - Schlag auf meinen Hintern einfing. „Also wirklich, Kleines... Mein Hintern gefällt dir wirklich gut, hm?", fragte ich gespielt geschockt. Dieses Mal fing ich mir gleich zwei Schläge auf mein Hinterteil ein.
Um sie etwas zu ärgern, trat ich an das alte Gitter heran, das den Balkon von der Tiefe abtrennte und drehte mich um, sodass die Rothaarige kurzzeitig über dem Nichts, abgesehen von der Erde, baumelte. „Cassian", fauchte Mila, die sonst stets gelassen war. Ich wusste genau wie sie sich fühlte. Auch mich hatte die Angst lange Zeit in ihren Fängen, doch ich hatte mich umentschieden und wollte nicht nur noch ein bloßes Objekt - oder vielleicht auch ein manipuliertes Produkt - dieser Gesellschaft sein.
Trotzdem trat ich von der Brüstung zurück und ließ den Rotschopf, der nun noch blasser als zuvor war, hinunter. Auf dem, von Sommersprossen übersäten Gesicht, lag eine Mischung aus Wut, Entsetzen und der altbekannten Panik. Mila wollte zu einem Schlag ansetzten, doch ich wehrte den Griff mit Leichtigkeit ab. „Du bist endgültig zu weit gegangen, ich habe keine Lust mehr auf diese Spielchen. Turnt dich das an? Mit meiner Angst zu spielen? Ich sage dir doch jedes Mal, dass du damit aufhören sollst. Du weißt genau, wie sehr ich mit meiner Angst zu kämpfen habe... in allen Situationen ", fragte der wunderschöne Rotschopf enttäuscht. Mit diesen Worten ließ sie mich alleine auf dem Balkon zurück, doch so leicht gab ich mich nicht geschlagen.
Meine langen Beine waren erneut von Vorteil. Auf der letzten Treppenstufe holte ich sie ein. Nachdem ich ihr meine Hand auf ihren unteren Rücken gelegt hatte, drehte ich sie schwungvoll zu mir um. Damit sie mir nicht entkommen konnte, schob ich sie mit dem Gewicht meines Körpers gegen das Geländer. Wenn jemand nicht die ganze Begebenheiten kennen würde, könnte er vermuten, dass wir bloß ein Pärchen waren, das sich einen stillen Ort gesucht hatte.
Mila sagte nichts, ihre grünen Augen sahen mich bloß abwartend an. Die Enttäuschung spiegelte sich noch immer in diesen wieder. „Du bist bloß ein Produkt dieser Gesellschaft. Sie umgarnt dich und ohne dass du es merkst, manipuliert sie dich", rutschte es mir heraus, deutlich harscher als beabsichtigt. Die Rothaarige gab einen zischenden Laut von sich, doch mir entgingen die glasigen Augen nicht, als sie sich von mir losmachen wollte.
„Warte, so war das nicht gemeint!"
„Ach, das ist das Einzige, was dir einfällt? Du weißt genau, wie stark mich meine Angst im Griff hat und anstatt, dass du dich entschuldigst, wirfst du mir so etwas vor? Willst du mir sagen, dass du keine Angst hast und besser bist als ich es bin? Weißt du was?! Du kannst mich mal!"„Mila. Hör mir zu. Du vertraust mir nicht. Du hattest Angst, dass ich dich da oben fallen lasse, oder? Weißt du warum? Weil die Gesellschaft durch ihre Regeln nicht zulässt, dass du vertrauen kannst. Du kannst kein Vertrauen aufbauen, weil du immer Angst haben muss, dass dich sogar deine Freunde, für die du dein Leben geben würdest, dich verraten. Obwohl du mit Tausenden unter der Kuppel lebst, fühlst du dich alleine. Wir Menschen sind dazu prädestiniert, dass wir zusammen leben und uns vertrauen, doch LUMIS verhindert genau das... durch ihre Regeln. Mir ist klar geworden, dass in diesem Leben nicht die Liebe das stärkste und heimtückischstes Gefühl ist. Es ist unser Vertrauen", erklärte ich.
Doch sie verstand nicht. Sie drückte mich von sich und ich ließ es zu. Als Mila an der Holztür ankam, drehte sie sich noch einmal zu mir um. Sie schien etwas sagen zu wollen, entschied sich aber um und verließ die Bibliothek ohne weitere Worte. Alles, was von ihr blieb, war ihr Geruch, der aus einer Mischung aus Sonnenblumen, Karamell und etwas, was ich nicht definieren konnte, bestand.
Der Rotschopf war fort. Der einzige Mensch, dem ich vertraute.
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Hey ihr Lieben!
Vielen lieben Dank für die 250 Reads und die tollen Worte! Hier erfahrt ihr etwas mehr über Cassian, seine Intentionen und die Gesellschaft.
Küsschen!
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𝐋𝐔𝐌𝐈𝐒
Science Fiction„Regel 1: Töte, beraube und verletze niemanden. Regel 2: Verlasse niemals die Kuppel. Regel 3: Melde Verstöße anderer." Wir schreiben das Jahr 2064. Vor 30 Jahren zerstörte ein Asteroid nicht nur die Hälfte der Welt, sondern auch die Hoffnung d...