Kapitel 2: Wunschträume

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Ivy konnte die ganze Nacht über kein Auge zu tun. Stundenlang blieb er wach, die Arme schlang er um seinen Oberkörper, die Decke zog er bis zum Kinn hoch. Ein Alpha. Ein Mate. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn. Ich habe Angst.

Der einzige Alpha, den Ivy bisher kannte, war sein Vater. Bei den seltenen Spaziergängen, die ihm erlaubt wurden, hatte er natürlich auch kurze Blicke auf andere Alphas erhascht. Ivy konnte spüren wie sie ihm hinterhersahen und er konnte hören, wie sie tuschelten. Er hielt den Kopf gesenkt und ging rasch weiter, ohne sich jemals zu weit von Bernd und Kurt, den Betas, die sein Vater ihm bei solchen Gelegenheiten als Bodyguards mitgab, zu entfernen.

Alphas waren gefährlich. Sie konnten einem Omega alles Mögliche antun. Es war das Sicherste, wenn man im Haus blieb, wo man beschützt wurde. Genau das waren doch die Gründe, aus denen sein Vater Ivy nicht allein nach draußen ließ – und jetzt wollte er Ivy einfach einem wildfremden, gefährlichem Alpha zum Mate geben?

Das ergibt doch gar keinen Sinn!!

Und noch ein Gedanke kam ihm: Mein Vater verkauft mich. Er redet davon, wie glücklich ich sein werde, aber das einzige, was ihn interessiert, ist dieser Deal mit dem FallStar-Konzern. Glaubt er wirklich ich wäre so dumm, dass ich das nicht erkenne?

Dieser Gedanke war so düster, so kalt und so bösartig, dass Ivy sofort wieder die Tränen kamen. Sie liefen ihm die Wangen hinunter und glitzerten dabei wie Diamanten. Er konnte ihn wieder spüren – diesen glühenden Splitter aus Zorn in seinem Herzen. Es tat weh. Er blinzelte die Tränen weg und versuchte, sich wieder zu beruhigen.

Er wusste, dass er diese bösen Gedanken nicht gewinnen lassen durfte. Ivy musste sich auf all die Dinge konzentrieren, die man ihm sein ganzes Leben lang gesagt hatte. Dass es schön war, einen Mate zu haben. Dass ein Alpha seinen Omega beschützte. Dass es gut war, sich einem Alpha zu unterwerfen, weil ein Alpha die emotionale Stabilität und intellektuelle Überlegenheit besaß, die ihm als Omega fehlte.

Wenn dieser fremde Alpha erst mein Mate ist, versuchte Ivy sich zu überzeugen, dann wird er sich bestimmt gut um mich kümmern. Papa hat recht. So ist einfach die Natur der Alphas und Omegas. Sobald wir Mates sind, wird alles gut werden.

Und war es nicht eigentlich furchtbar selbstsüchtig und gemein von Ivy, dass er seinem eigenen Vater – dem Alpha, der sich bisher sein ganzes Leben lang um ihn gekümmert hatte, - in Gedanken so schlimme Dinge vorwarf? Was ist nur mit mir los? Papa ist viel älter und schlauer als ich, und er ist ein Alpha. Bestimmt weiß er wirklich, was das beste für mich ist. Ich sollte aufhören, ihm so schreckliche Dinge zu unterstellen.

Die Tränen versiegten. Das Brennen in seiner Brust tat nicht mehr so weh, auch wenn er es immer noch fühlen konnte. Ivy spürte, dass er wirklich geschafft hatte, sich zu beruhigen. Er streckte sich auf seinem weichen Bett aus und schaute an die Decke. Alles würde gut werden. Er dachte an die vielen romantischen Geschichten, die er schon gelesen hatte. In manchen davon mochten der Alpha und der Omega sich nicht von Anfang an. Aber mit der Zeit lernten sie, einander zu lieben. Ihre Seelen wurden durch den Matingbund eins.

So würde Ivys Leben auch verlaufen. Es würde ein wunderschönes, ganz normales Leben werden. Ivy und sein Mate würden in einem großen Haus in Ivory Hill leben und Ivy würde jeden Tag kochen und seinen Alpha mit einem verliebten Lächeln auf den Lippen zuhause empfangen, wenn er von einem langen Arbeitstag nach Hause kam.

Sein Alpha würde Ivy küssen und sich bedanken, seine Hand nehmen und sagen: „Ich bin so glücklich, dass du mein Omega bist, Ivy. Ich liebe dich mehr als alles andere." Sein Alpha würde Ivy respektieren, ihn oft nach seiner Meinung fragen und ihm zuhören. Jeden Tag würden sie in der Glückseligkeit verbringen, die man nur durch wahre Liebe erreichen kann.

Ganz sicher würde alles genauso kommen.

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