Kapitel 8: Da waren's nur noch neun

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Mit zitternden Knien und tränenverschmierten Augen stand Ivy auf. Seine Tränen waren schon vor Stunden versiegt, nun blieb nur noch ein brodelnder Zorn in seinem Inneren. Du und ich werden niemals gleichgestellt sein, Omega – Elias' grausame Worte rangen ihm noch immer in den Ohren.

Wird der Rest meines Lebens so aussehen?, fragte sich Ivy, während er sich schwankend an der Wand abstützte, seine schmalen Schultern zitterten vor ohnmächtiger Wut. Auf seinen Knien hatten sich Blutergüsse gebildet und seine Beine fühlten sich so schwach an, als wäre er ein neugeborenes Reh. Aber seine Knie taten nicht halb so weh, wie die Vorstellung, für immer Elias' Mate – nein, Sklave – sein zu müssen.

„I-ich – werde nicht -", flüsterte er in die Stille des dunklen Zimmers hinein, „Ich kann nicht -, ich will nicht -", er brach ab und ballte seine Hände zu Fäusten. Seine zerkauten Fingernägel hinterließen blutige Halbmonde in seinen Handflächen. Wie ein Schlafwandler schleppte er sich aus dem Zimmer hinaus. Während er sich mit einer Hand an der Küche abstützte, humpelte er den Flur zur Küche hinunter.

Alles sah noch genauso aus wie an diesem Morgen, als Ivy noch geglaubt hatte, dass Elias vielleicht einsehen würde, dass er Ivy nicht einfach misshandeln und herumkommandieren durfte. Aber dieser Traum war ein für allemal gestorben. Ivy kam es vor, als könnte er die Zukunft gestochen scharf vor sich sehen, wenn er die Augen schloss – Elias' Schläge, Elias' Verbote, Elias' degradierende Befehle – immer und immer wieder, bis Ivy alt und müde und gebrochen war.

Ivy schleppte sich zur Küchentheke. Mehrere Messer steckten dort in einem großen, hölzernem Block. Ivy starrte sie mit düsterem Blick an.

„Ich bin jetzt soweit", flüsterte er. Die Hand des kleinen Omegas streckte sich bebend nach dem größten Messer aus und umklammerte den kühlen, glatten Metallgriff. Er zog die glänzende Klinge aus dem Block und wog sie in der Hand. Es war ein langes, scharfes Messer zum Zerteilen von sehnigem Fleisch und Knochen.

Ivys Blick wanderte zwischen seinem Ringfinger und der Klinge hin und her.

Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als er zögerlich die rechte Hand auf die Theke legte. Den Ringfinger streckte er aus, die anderen Finger zog er an, so dass ein sauberer Schnitt einfacher sein würde.

Das ist meine einzige Chance, dachte er wild und atmete tief ein. Ein Finger für mein Leben.

Er holte weit aus und ließ das Messer mit aller Kraft auf seine Hand niedersausen. Mit einem Geräusch, bei dem sich Ivy der Magen umdrehte, fräste sich die Klinge in sein Fleisch. Seine Welt explodierte in Schmerz. Ein langezogener, gequälter Schrei entdrang seiner Kehle, während hemmungslose Schluchzer seinen schmalen Körper durchschüttelten. Er war zu schwach gewesen, um seinen Ringfinger schon beim ersten Streich von der Hand zu trennen und nun hing der Finger noch an einem schmalen Streifen Fleisch.

Mit aller Macht zwang sich Ivy, das Messer zu heben und die Klinge noch einmal niedersausen zu lassen. Klirrend schlug sie gegen die Küchentheke und Ivys Ringfinger fiel mitsamt des Matingrings abgetrennt zu Boden.

Ivy fiel zu Boden und presste sich weinend seine blutende, verstümmelte Hand an die Brust. Große, rote Flecken breiteten sich auf seinem Nachthemd aus. Die Welt drehte sich und sein Herz raste, sein Atem ging stoßweise.

Er wusste nicht wie lange er dort lag, nur dass der Schmerz grauenhaft war und er sich fast übergeben musste. Doch nach einer Weile hörte das Zittern auf. Er zog sich an der Küchentheke hoch. Mit der unverletzten Hand hob er seinen abgeschnittenen Ringfinger vom Boden auf und zog den Mondsteinring herunter – der Ring glitt mühelos vom toten Fleisch.

Ivy war frei.

Halb bewusstlos schwankte zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Weg dorthin ließ er eine Spur aus Blutstropfen zurück.

Im Schlafzimmer hievte er seinen erschöpften Körper zu der Kommode, auf der ein kleines Schmuckkästchen stand. Aus diesem Kästchen nahm Ivy das Stahl- und Diamanten-Halsband, das er auf seiner Hochzeit getragen hatte. Er brauchte mehrere Versuche, bevor er es schaffte, den Mondsteinring auf dem Halsband aufzuziehen, so dass er daran hing wie ein großer, schimmernder Anhänger.

Nachdem es ihm schließlich gelungen war, ließ er sich auf den Schreibtischstuhl fallen, seine verstümmelte Hand schützend an die Brust gedrückt, während er mit der anderen das Halsband unklammerte. Ivy saß dort und wartete – er wartete, obwohl die Schmerzen schrecklich waren und er eigentlich Hilfe holen sollte. Aber der Knoten aus Wut in seinem Bauch ließ das nicht zu – er würde hier sitzen und warten, bis Elias zurückkam. Und dann...dann würde Ivy sich an ihm rächen. Er hatte es satt, dass alle ihm ständig ihren Willen aufzwangen – es war Zeit, den Spieß umzudrehen.

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