Kapitel 10: Wie du mir, so ich dir

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„Es tut mir leid, Mister Fallstar", sagte die Alpha-Ärztin sanft. Bei den Worten Mister Fallstar sah sich Ivy unwillkürlich nach Elias um, aber im Krankenzimmer waren nur er selbst und die Ärztin. Dann fiel ihm ein, dass er ja Elias' Mate war und die Ärztin wahrscheinlich ihn meinte.

„Das Gewebe war zu beschädigt – wir können den Finger nicht wieder annähen", fuhr sie fort. „Der Schnitt war zwar recht sauber, aber der Finger lag zu lange auf dem Boden. Hätte man ihn in Gaze eingewickelt, gekühlt und in einer sauberen Box aufbewahrt, hätten wir ihn wahrscheinlich retten können, aber so..."

„Ich werde es mir für's nächste Mal merken", erwiderte Ivy trocken.

Die Ärztin lachte. „Für einen Omega haben Sie einen überraschend morbiden Humor, Mister Fallstar." Sie musterte seine bandagierte Hand. „Und einen überraschend starken Willen", fügte sie leiser hinzu.

Ivy hob den Kopf und schaute sie an. Zweifellos hatte sie erraten, was er getan hatte. „W-wir werden eben oft unterschätzt", flüsterte er.

Sie nickte zustimmend und gab ihm ein Rezept für die Schmerzmittel, die er den nächsten Monat lang nehmen sollte. Dann verabschiedete sie sich und ließ ihn allein.

Schon einen Tag später wurde Ivy aus dem Krankenhaus entlassen. Er stand in seinem Krankenhaushemd vor dem Gebäude auf der Straße – die Frau an der Rezeption hatte ihm versichert, dass das Personal Elias angerufen hatte, damit sein Alpha ihn abholen kam, aber Ivys Mate ließ sich nicht blicken. Das hätte ich mir ja denken können, dachte er und würgte den Kloß aus Einsamkeit hinunter, der sich plötzlich in seiner Kehle gebildet hatte. Er hatte keine Freunde und keine Verbündeten – aber immerhin einen Mate, den er zumindest in der Theorie zur Kooperation zwingen konnte. Ärgerlich wischte er sich die kleinen Tränen weg, die sich schon wieder in seinen Augenwinkeln gebildet hatten. Elias hat Recht, dachte er wütend, ich bin wirklich ständig am Heulen. Das ist das einzige, was ich in letzter Zeit tue.

Zögerlich begann Ivy, auf die vereinzelten Taxis zuzulaufen, die auf dem Krankenhausparkplatz auf Kundschaft warteten. Fröstelnd schlang er die Arme um sich. Ein kalter Herbstwind wehte und Ivys Krankenhaushemd bot so gut wie keinen Schutz. An den Füßen trug er keine Schuhe, sondern nur ein paar Plastikschlappen. Da Elias ihn barfuß und im blutverschmierten Nachthemd in der Notaufnahme abgeliefert hatte, trug Ivy im Moment nichts außer dieser Krankenhauskleidung am Leib.

Mit klappernden Zähnen blieb Ivy vor einem der Taxis stehen. Mit der guten Hand klopfte er an die Fensterscheibe. Der Beta im Inneren ließ die Scheibe hinunter und warf Ivy einen zweifelnden Blick zu.

„Nichts für ungut, Kleiner -", sagte der Beta abschätzig, „- aber du siehst nicht so aus, als ob du zahlen könntest."

Ivy schlang die Arme noch enger um seinen Oberkörper. „I-ich habe kein Geld bei mir", gab er zu, „aber mein Alpha kann Sie bezahlen – wenn Sie mich zu ihm bringen..."

Der Taxifahrer schnaubte. „Sorry, Kleiner. Aber so läuft das nicht. Am Ende führst du mich an der Nase herum und verschwindest einfach, wenn ich dich abgesetzt hab. Und seit wann dürfen Omegas eigentlich alleine durch die Stadt fahren, hm? Sollte dein Mate nicht bei dir sein?"

Ivy warf dem Beta einen flehenden Blick zu. „B-bitte, ich verspreche Ihnen, dass mein Alpha -"

Der Beta schnitt ihm mit einem Kopfschütteln das Wort ab. Dann ließ er die Fensterscheibe wieder nach oben fahren.

„Hey!", rief Ivy bestürzt und hämmerte mit der guten Hand gegen die getönte Scheibe. „Sie...Sie können mich doch nicht einfach hier stehen lassen!"

Poison HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt