Kapitel 21

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Als ihn die Wahrheit durchzuckt wird ihm schwarz vor Augen. Er liegt einfach nur dort, in dem nassen Gras und wartet auf den Morgen, der für ihn nie wieder kommen wird. Er sieht ihre Augen, die ihn klug anschauen. Immer wenn er sie ansah, dachte er an das Meer, an die Wogen, die sich in ihren Augen brachen. Ein einzigartiges Blaugrün. Ihr Lachen, ihre strahlend weißen Zähne. Ihre Hand, die immer wieder eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr schob. All das kann ich nie wieder sehen! Die Wärme die sie ausstrahlte, das Charisma. Sie schien den ganzen Raum auszufüllen, wenn sie ihn betrat. Er konnte es nicht lassen sie anzuschauen. Sie war so zerbrechlich, so jung. Und jetzt ist sie nicht mehr!, stellt er fest. Dann sackt er endgültig ins Nichts.

Als der Gott die Augen wieder öffnet liegt er in einem Raum. Immer noch erschöpft schließt er sie wieder. Dumpf und meilenweit entfernt hört er ein Lachen, ihr Lachen. Es war hell und klar wie ein Glockenschlag! Der Schmerz ihres Verlustes schwemmt über ihn hinweg, reißt ihn mit. Warum? "Warum?", er schreit, versucht dem Schmerz irgendwie zu entfliehen.

Er spannt sämtliche Muskeln an, kann sich aber doch nicht rühren, es ist, als würde er auf dem Bett festgebunden sein. Eine neue Welle überrollt ihn und er kneift die Augen zusammen um nicht erneut aufzuschreien.

Dann wird er ruhig. Er liegt einfach nur regungslos dort, die Augen geschlossen, seine Brust hebt und senkt sich unmerklich. Wie in Trance steht er auf und schaut sich um. Er ist in seinem kleinen Zimmer. Es ist so eingerichtet wie alle Gästezimmer. Langsam geht er zu dem bodenlangen Spiegel, der an der Wand hängt. Seine langen, schwarzen Haare sind wirr und filzig. Sein Gesicht dreckig und blutig, wo ihn die Äste schnitten. Er reißt sich sein Oberteil vom Leib. Seine Brust und Arme sind mit dünnen und feinen Narben aus früheren Zeiten übersäht. Er zieht eine mit dem Finger nach. Diese Wunde ist verheilt, denkt Loki bitter. Er schaut sich direkt in die Augen. Das einst so leuchtende Grün scheint stumpf und blass geworden zu sein. Sein Schmerz spiegelt sich in ihnen wieder. Langsam legt er eine Hand auf den Spiegel und sieht, was sein anderes Ich ihm gleichtut. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte! Hätte ich sie aufhalten können? Hätte, hätte, hätte ...Seine Wut überschatten den Schmerz. Dieser Hass auf sich selbst überrennt alles, füllt ihn aus. "Sie hat es getan, und du bist schuld!", brüllt er sich selbst an. Tränen sammeln sich in seinen Augen, aber er verdrängt sie. Eine steinerne Maske legt sich über sein Gesicht, er verdrängt alle Trauer, alle Gefühle an sie, alle Erinnerungen an seine Kleine.

Langsam und mit einem trockenen Lächeln schaut er sein Spiegelbild an, dann wendet er sich ab. Nie, nie wieder wird er eine Träne verschwenden, nie wieder wird er ein Gefühl zeigen! Diesen Schwur leistet er, jetzt, in diesem Augenblick. Er wendet sich ab, betritt den kleinen Balkon und schaut auf die Stadt unter ihm. Was hat sie ... - NEIN! Erneut kneift er die Augen zusammen um der Erinnerung zu entkommen. Er schaut nach links, sieht ihren Balkon. Wieder füllt sie seine Gedanken aus, wieder erinnert er sich an die Woche mit ihr in ihrer Wohnung. Wieder sieht er sie dort unter dem Baum stehen, wieder sieht er das Leuchten ihrer Augen, wieder hört er sie sagen, dass sie vor dem Richtigen niederknien wird. All die Erinnerungen stürmen auf ihn ein, dass es unmöglich ist, sie aufzuhalten.

Er hört leise Schritte hinter sich und dreht sich um. Loki sieht eine blonde Schönheit, aber nicht seine Schönheit.

Sigyn steht in der Tür, lächelt leicht und verlegen schaut sie zu Boden.

Die Verlockung ist groß und die Maske bekommt leichte Risse, aber er bekommt sich wieder unter Kontrolle und schaut die andere Göttin emotionslos und kalt an. "Es tut mir so leid!", flüstert sie und tritt auf ihn zu. Er bleibt teilnahmslos mitten im Raum stehen und starrt mit leerem Blick auf den Boden. Sigyn legt beide Hände an seine Wangen und hebt seinen Kopf leicht an. Loki lässt es geschehen und sieht sie immer noch kalt an. Weitere Risse zieren die starre Maske. Einzelne Teile bröckelten ab. Die kaltgrauen Augen durchziehen wieder dünne, grüne Adern. Er kann nicht böse auf sie sein. Schon längst hat er Sigyn verziehen und sucht die Schuld bei sich.

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