Perfekt

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Kapitel 15

„Wie immer in dieser Situation ist es sehr, sehr aufregend für mich. Also versuch ich einfach mal die Nervosität wegzulabern. Es ist 10 Uhr in Kalifornien und schon jetzt das schönste Wetter, obwohl es bald Dezember ist. Ich sitze im PCA in Paul's Version von Stinkebox, während der seine Mitarbeiter wieder rum scheucht und ich sitze hier und bin sehr gespannt auf meinen heutigen Gast oder heutige Gästin."

Joko war gut gelaunt. Paul hatte ihn mit einem leckeren Frühstück geweckt. Die Sonne war warm genug, um im Shirt herumzulaufen, obwohl in zwei Tagen schon der 1. Dezember war. Und Joko liebte die Weihnachtszeit. Einfach alles daran. Die Vorfreude. Das Zusammensein mit seinen Liebsten. Das Kochen und die Geschenke. Der Dezember war eindeutig sein Lieblingsmonat.

Und dieses Mal befand er sich zu dieser Jahreszeit bei Paul und seiner Familie. So war es zumindest geplant. Er hatte die schönsten Erinnerungen an das letzte Weihnachten, welches er in Amerika verbracht hatte und solche Erinnerungen benötigte er in diesem Jahr ganz dringend.

„Paul wollte, dass ich die Kamera einschalte. Das hab ich gemacht. Mein Gast, meine Gästin natürlich noch nicht, wäre ja sonst zu einfach", sagte Joko mit einem breiten Grinsen im Gesicht, blickte sich um und bemerkte, dass Paul ihn beobachtete. Er hob den Daumen, um zu zeigen, dass er klarkam. Paul nickte nur kurz, zeigte ansonsten aber keine weitere Reaktion. Joko ließ sich davon nicht beirren und schaute wieder auf den Laptop vor sich.

„Aber jetzt sag ich einfach mal Hallo und warte ab."

Keine Antwort.

„Hallo, hallo? Steht die Verbindung?"

Stirnrunzelnd schaute Joko auf den Laptop, bekam von ihrer Redakteurin aber die Nachricht, dass die Leitung stand.

„Mein Gast scheint sich etwas zu zieren. Mäuschen mach mal piep."

Wieder herrschte Stille. Und dann: „Hallo Joko!"

Die Kamera auf der Gegenseite wurde eingeschaltet und Klaas erschien auf dem Bildschirm.

Die Zeit stand still. Der Moment schien ewig zu dauern.

Joko's Augen flogen über den Bildschirm, saugten jeden Zentimeter von Klaas' Erscheinung auf. Er sah müde aus. Er sah dünner aus. Er sah fertig aus. Das komplette Gegenteil von seinem Aussehen bei Late Night Berlin. Der Bart war ordentlich gestutzt. Die Haare kurz geschoren, sodass das schmale Gesicht noch mehr zur Geltung kam. Und diese blauen Augen. Diese unfassbar blauen Augen, die ihm die Gefühle gewissermaßen ins Gesicht brüllten.

„Joko."

Sein Verstand meldete sich wieder zu Wort. Erschrocken sprang er vom Stuhl auf, prallte dabei gegen die Wand hinter sich und zerrte sich den Kopfhörer runter. Er riss die Glastür auf, doch Paul stand bereits da. Schüttelte den Kopf. Hielt ihn davon ab, die Box zu verlassen.

„Paul ..."

„Nein. Du klärst das jetzt mit ihm. Du bist lange genug vor ihm davongelaufen und ich hab's dir durchgehen lassen, aber irgendwann musst du dich ihm stellen. Enough is enough."

„Ich bin noch nicht so weit ..."

„Je länger du es vor dir her schiebst, desto schwieriger wird es", sagte Paul und schüttelte den Kopf. „Du tust es nicht für ihn. Du tust es für dich. Damit du weiter machen kannst, denn so geht's echt nicht mehr weiter."

Krampfhaft hielt Joko sich am Griff der Glastür fest, blickte Paul in die Augen und spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er war überfordert. Überrumpelt. Hatte keine Ahnung, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Wie er Klaas nach all der Zeit gegenübertreten sollte. Was er ihm sagen sollte. Wie er seine Flucht erklären sollte.

Tabula RasaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt