Indianerehrenwort

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Mehrere Wochen vergingen. Dalia und Sebastian gewannen an Routine in ihrem täglichen Leben. Sie waren ein eingespieltes Team. Die Vorfälle die sie erlebt hatte und sie belasteten, wurden erträglicher. Sie waren zwar noch da, jeden Tag in ihren Gedanken. Aber sie konnte mittlerweile damit Leben. Vielleicht half ihr auch der „Michael-Fall" in der Kanzlei damit langsam abzuschließen. Sebastian hatte ihr hin und wieder geraten sich eventuell Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu holen. Das lehnte sie vehement ab. Sie bräuchte keine Hilfe. So akut wäre ihre Problematik nun doch nicht mehr. Er machte sich immer wieder Sorgen um sie. Vor allem da sie nur noch 3-4 Stunden schlief. Sie wachte jede Nacht schweißgebadet von furchtbaren Alpträumen auf. Nacht für Nacht für Nacht. Er litt mit ihr und konnte es nur schwer mit ansehen. Zu etwas drängen wollte er sie aber auch nicht, und bevor sie sich vollständig von ihm distanzierte und zurückzog, lies er ihr ihren Freiraum und respektierte ihre Entscheidung vorerst nichts gegen ihre Symptomatik zu unternehmen. Joyce schrieb ihr mittlerweile jeden Tag eine Nachricht. Sie hatte sogar einen Brief nach Hause geschickt. Es war keine Entschuldigung. Es waren Rechtfertigungen und vor allem unschöne Anschuldigungen gegen Dalia. Sie hatte ihrer Wut in diesem Brief freien Lauf gelassen und sie kritisiert, was für eine schlechte Freundin sie doch sei, weil sie die neue Liebe von ihr nicht akzeptieren würde oder das Dalia Oberflächlich geworden sei und sich nur noch um sich selbst und um ihre eigene Beziehung kümmern würde. Zwischen Dalia und ihrer eigenen Welt wäre kein Platz mehr für Freunde. Das waren wirkliche schwere Zeilen. Dalia überspielte ihre Gefühle ganz professionell. Für Sebastians Geschmack mittlerweile etwas zu gut. Sie wusste das dies sicherlich kein gutes Ende nehmen würde. Er wollte sich nicht ausmalen was passieren könnte. Zu groß war die Angst sie zu verlieren.

Der Juristische Fall war in vollem Gange und es wurde bereits ein Datum festgelegt. Der Gerichtstermin sollte wenige Tage nach Neujahr stattfinden. Mr. Pierce, Dalias Chef, hatte fleißig Zeugen einberufen und würde sogar selbst als Zeuge gegen Michael aussagen. Sebastian und Joyce wurden ebenfalls vorgeladen. Dalia war eine der Hauptzeuginnen und gleichzeitig eins der Opfer. Aber vorerst stand Weihnachten vor der Tür. Sebastian hatte sich ganz besondere Gedanken darüber gemacht und wollte sie Reich beschenken. Sie mussten mit den vergangenen Monaten abschließen. Nach diesem furchtbaren Jahr war das auch dringend nötig. Es waren noch genau acht Tage bis Weihnachten und Sebastian hatte erst vier Tage vor Heiligabend frei. Momentan war er in Los Angeles für seine Filmpremiere. Er wollte ursprünglich mit Dalia nach LA reisen, diese musste aber arbeiten und nutzte die Gelegenheit, um mal wieder etwas mit Tom zu unternehmen. In den vergangenen Wochen hatten sie wieder vermehrt Kontakt. Tom hatte Semesterferien und hatte etwas mehr Zeit. Außerdem war er auf der Suche nach einer Wohnung, da er aus seinem Elternhaus ausziehen wollte. Konnte Dalia gut nachvollziehen. Nach einer gewissen Zeit brauchte man einfach seine eigenen vier Wände und vor allem - Ruhe. Sie verbrachten Filme Abende auf Sebastians Couch, gingen gemeinsam in Cafés, in die Mall und waren zusammen wieder bei der Freiheitsstatue und haben dort ihren Nachmittag verbracht. Tom war eine große Stütze in der schwierigen Zeit. Sie und Sebastian hatten beschlossen, ihn an Weihnachten einzuladen und gemeinsam einen Tag zu verbringen. Sie hatte ganz typische weihnachtliche Aktivitäten vor und wollten ihn dabei haben. Er war wirklich sehr überrascht über die Einladung, freute sich aber wie ein kleines Kind über einen gemeinsamen, gemütlichen Abend am zweiten Weihnachtsfeiertag. Den Rest würde er mit seiner Familie verbringen. Weihnachten machte es Dalia noch einmal extra schwer ihren Vater nicht um sich zu haben. Sie hatte auch darüber nachgedacht, Weihnachten bei ihm zu verbringen. Leider bekam sie keinen Urlaub und konnte sich vor dem Gerichtstermin auch nicht erlauben weg zu sein. Schließlich musste sie sich ausreichend vorbereiten und brauchte einige Tage Zeit, um mit der Tatsache klar zu kommen, ihn wieder zu sehen und das gesamte Erlebte wieder zu eröffnen und auf den Tisch zu legen. Tom würde sie, neben Sebastian, ebenfalls im Saal Unterstützen und dabei sein. Sie hatte sich ihm anvertraut weil er sie mehrfach auf Dinge angesprochen hatte, die für sie sehr belastend waren und dementsprechend auch reagiert hatte. Daraufhin hatte sie ihn aufgeklärt. Es fühlte sich tatsächlich gut an sich so etwas von der Seele zu reden und sich nicht mehr davor verstecken zu müssen.

Ein helles klingeln riss sie aus ihrem Gedanken Karussell heraus. Sie blickte auf ihr Handy und rollte mit den Augen. Pünktlich auf die Minute verschickte Joyce ihre tägliche, nervige Nachricht. Sie erhoffte sich wirklich das sie damit wieder das zurück bekam, was sie mal hatten. Dalia war einfach nur noch genervt davon. Etwas lächerlich fand sie es mittlerweile auch. Sie öffnete die Nachricht und hatte ein falsches Lachen auf den Lippen. „Das ist nicht Lache," fügte sie nach dem lesen hinzu und sperrte ihr Handy. „Ich werde immer für dich da sein. Pinky Promise. J." Joyce zeigte die vergangenen Wochen wirklich Reue. Dalia hingegen war in dieser Hinsicht unnahbar und vollkommen unterkühlt. Sie hatte sogar ihre Nummer gelöscht. Sie war wirklich radikal. Aber es half ihr darüber hinweg zu kommen. Sie spürte wie die Last etwas von ihren Schultern sank als sie sämtliche Nachrichten, Bilder und auch ihre Telefonnummer löschte. Natürlich hatte sie bereits vor diesem „Vorfall" etliche Kopien ihrer Bilder auf ihrem Laptop. Von dort hatte sie sie noch nicht gelöscht. Dafür war sie wohl doch noch nicht 100%ig bereit. Sie war immer noch wie eine Schwester für sie. Sie hat ihr durch die Beerdigung ihrer Mutter durchgestanden und Dalia ebenfalls. Sie waren beide für einander da, als sie niemanden mehr hatten. Und ehrlich gesagt grauste es ihr jetzt bereits vor dem Tag, an dem sie Joyce vom ableben ihres Vaters berichten muss. Eigentlich musste sie das ja auch gar nicht. Aber Joyce hatte ebenfalls ein tolles Verhältnis zu Dalias Vater, so wie Dalia zu Emily. Wenn sie ihr das wirklich vorenthalten würde, wäre sie ein absolut furchtbarer Mensch. Sie wollte zwar nicht zu intensiv über ihren Vater nachdenken, konnte aber nicht anders seit einem beunruhigendem Telefonat mit David Schmidt, dem Pfleger ihres Papas, vor drei Wochen. Ihr Paps wäre zunehmend schwächer geworden und würde nur noch mit Sauerstoff über den Tag kommen. Er hatte ihr ein Bild von ihm geschickt. Daraufhin hatte sie ihn panisch angerufen. Er ist unglaublich abgemagert da er nichts mehr essen möchte. Er würde sich dafür zu schwach fühlen und er hätte auch kein Hungergefühl mehr. Seine Tabletten nahm er größtenteils auf nüchternem Magen welches dazu führte, das seine Magenschleimhaut rebellierte, und sich sämtlichen Inhalt so schnell wie möglich entledigen wollte. Somit würde er nie genug Vitamine und wichtige Nahrungsstoffe und auch nicht seine Medikamente zu sich nehmen. Er nahm Metformin, welches für seinen erhöhten Blutzucker nicht mehr wegzudenken war. Außerdem nahm er noch ausschwemmende Medikamente, da seine Beine mit Flüssigkeit prall gefüllt waren. Er war im akuten Nierenversagen und seine COPD machte ihm sein Leben unheimlich schwer. Nur wenige Schritte waren so anstrengend für ihn, als würde man einen steilen Berggipfel besteigen. Danach musste er sich für mehrere Stunden ausruhen. Manchmal schlief er ganze zwei Tage durch. Dalia wusste das irgendwann der Anruf kommen würde. Dieser Anruf würde ein weiteres riesen Loch in ihr Leben reißen. Somit hätte sie sämtliche Verbindung aus ihrem früheren Leben in Deutschland verloren. Mit noch nicht einmal 30 Jahren.

Sie rief zwei mal am Tag bei ihm an um seine Stimme zu hören. Es tat ihr im Herzen weh, nicht bei ihm sein zu können. Seine zitternde, zerbrechliche Stimme war alles, was ihr noch von ihm übrig blieb. Auch ihr Vater war froh, mit seiner Tochter sprechen zu können. Seit Davids Anruf hatte sie ihm jeden Tag eine Karte geschickt. Sie wollte das er sich ebenfalls reich beschenkt fühlte, so wie sie es durch sein da sein war. Er fragte sie bereits mehrmals wann sie ihn besuchen kommen würde und das er so lange auf sie warten würde. Als sie fragte worauf er wartete, wurde ihr der Boden unter den Füßen weg gerissen. Er antwortete mit klarer und starker Stimme, anders als sonst, das er auf sie wartete, bevor er zu Daphne, seiner Frau, ging. Er wusste selbst das er es nicht mehr lange aushalten würde. Dalia brach seit diesem Telefonat mehrmals in Tränen aus. Sebastian war während dessen stets an ihrer Seite. Sie musste sich nun langsam darauf gefasst machen. Aber konnte man sich denn auf irgendeine Weise auf den Tod eines Elternteils vorbereiten? Egal wie sehr man damit rechnet oder man sicher weiß, das dies auch eintreffen würde, es würde einem trotzdem das Herz brechen. In solch einer Situation ist man völlig hilflos und alleine. Man fühlt sich leer und verloren. Als würde man am lebendigen Leib verbrennen. Schmerzhaft und absolut qualvoll.

Sie saß am Esstisch und starrte auf die leere Karte vor sich. Tränen erschwerten ihre Sicht auf ihr geschriebenes. Sie legte den Stift zur Seite, las ihren letzten Satz an ihren Vater und brach in Tränen aus.. Eine Ansammlung an Buchstaben die so viel Bedeutung mit sich trugen. Er kürzte einen seiner Lieblingssätze mit einem simplen Versprechen ab. Ein Versprechen an Dalia welches eine ganz besondere Bedeutung hatte: "Egal was noch kommen mag, die Sonne wird danach immer scheinen."

Ich werde bald bei dir sein, Paps. "Indianerehrenwort." 

Compass ; (Sebastian Stan FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt