11 - Theodore

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Mit den Fingerspitzen massiere ich vorsichtig meine Schläfen. Dahinter pocht es unaufhörlich und das nicht erst seit heute. Inzwischen bereue ich es, dass ich meine letzten Schmerztabletten an Grace verschenkt habe. Als sie mir gestern auf dem Flur begegnet ist, verheult, gekrümmt und mit verschmierter Wimperntusche, hatte ich wirklich ein bisschen Mitleid mit ihr. Jetzt verfluche ich meine Nettigkeit.

Heute scheint es Grace schon wieder besser zu gehen. Jedenfalls ist sie fit genug, um Adrien und mich mit physikalischen Formeln und verstaubten Geschichtszahlen zu quälen. Physik fällt mir grundsätzlich leicht, aber nach der hundertsten Textaufgabe wird selbst mein Gehirn müde. Ohne meine besondere mathematische Begabung, von der Grace nichts weiß, hätte ich schon längst hingeschmissen.

Die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen und der Schmerz in meinem Kopf wird zunehmend heftiger. Wenn diese ätzende Nachhilfe nicht wäre, würde ich jetzt entweder eine Runde spazieren gehen, um frische Luft zu schnappen oder mich in meinem abgedunkelten Zimmer aufs Ohr hauen. Beides wäre für meinen Schädel mit Sicherheit angenehmer als das hier.

Irgendwann steht Adrien abrupt auf und fängt an, seine Sachen zusammenzupacken. „Ich muss los", sagt er an mich gewandt, ohne Grace zu beachten. „Mrs. Chambers wartet auf mich. Tut mir leid, Mann."

„Mir auch", murre ich, weil ich nicht scharf darauf bin, mit ihr alleine zu sein. Aber ich habe vollstes Verständnis dafür, dass er sich lieber um seine Nachbarin kümmern möchte statt hier über langweiligen historischen Daten zu brüten. „Bis dann."

„À plus tard", erwidert er und gibt mir zum Abschied eine Faust. „Amuse-toi bien avec l'intello." Es kümmert Adrien nicht, ob Grace ihn versteht oder nicht. Er verabschiedet sich auch nicht von ihr. Sie ist ganz einfach Luft für ihn.

Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. „Mrs. Chambers?", fragt sie schnippisch, sobald er weg ist. „Wer soll das sein? Hoffentlich seine Erzieherin, die ihm ein paar Manieren beibringt." Okay, ich glaube, sie hat ihn verstanden.

„Seine Nachbarin", antworte ich ruhig, obwohl mich meine Kopfschmerzen schier in den Wahnsinn treiben. „Sie ist schon ziemlich alt und so etwas wie seine Oma. Er und seine Mutter kümmern sich manchmal um sie."

„Ach, sag bloß", knirscht Grace und blättert aggressiv eine Seite in ihrem Mathebuch um. „Monsieur hat also doch eine nette Seite. Die versteckt er aber ziemlich gut!" Die Zornesfalte zwischen ihren Augenbrauen wird mit jedem Satz tiefer.

Ich sage nichts dazu. Wenn sie glaubt, ich würde mit ihr zusammen über Adrien lästern, hat sie sich geirrt. Ich finde zwar auch, dass er sich ihr gegenüber etwas zu abweisend verhält, aber erstens ist das seine Sache und zweitens werde ich ihm sicher nicht vorschreiben, wie er sich zu benehmen hat. Abgesehen davon bin ich von Grace als Person auch nicht unbedingt angetan.

Ich meine, ich kenne sie nicht wirklich, aber ich habe schon gemerkt, dass sie sich selbst und die Schule viel zu ernst nimmt. Menschen, die anders ticken als sie, scheinen ihr nicht geheuer zu sein. Adrien und ich, wir sind in ihren Augen nur zwei Trottel, die sie vom Lernen abhalten. Ich wette, diesen Eindruck von uns hatte sie auch schon, bevor sie zum ersten Mal ein Wort mit uns gewechselt hat.

Polternde Schritte reißen mich aus meinen Gedanken. Ich schrecke hoch und runzle die Stirn. Wer ist das denn jetzt? Außer Grace und mir sollte niemand hier sein. Das Pochen hinter meinen Schläfen wird stärker, als im nächsten Moment plötzlich die Tür geöffnet wird und mein Vater hereinkommt. Von Anklopfen hat er wohl noch nie etwas gehört.

„Dad!", sage ich und kann nicht verhindern, dass ein anklagender Unterton in meiner Stimme mitschwingt. „Was machst du hier?" Eigentlich wollte er erst gegen Abend wieder nach Hause kommen.

Mein Vater rückt seine Krawatte zurecht und wirft mir einen tadelnden Blick zu. „Ich dachte, ich wohne hier", antwortet er streng. „Mein Meeting hat doch nicht so lange gedauert und das Dinner danach habe ich abgesagt, weil ich ein bisschen Zeit mit meinem Sohn verbringen wollte. Aber wie ich sehe, bist du schon verplant."

Zeit mit mir verbringen, dass ich nicht lache. Es wäre das erste Mal innerhalb von siebzehn Jahren, dass er meinetwegen ein Abendessen ausfallen lässt. Ich glaube eher, dass er seinen Überraschungsbesuch geplant hat, um zu kontrollieren, was ich in meiner Freizeit mache. Das würde ihm jedenfalls ähnlich sehen.

Ganz gentlemanlike wendet Dad sich an Grace, die etwas peinlich berührt wirkt und reicht ihr die Hand. „Freut mich, dich kennenzulernen", sagt er galant, während er sie von Kopf bis Fuß mustert. „Mit wem habe ich denn die Ehre?"

Ihre Wangen färben sich zartrosa. Die Situation ist ihr unangenehm und ausnahmsweise kann ich sie zu hundert Prozent verstehen. „Grace", stellt sie sich zögerlich vor. „Grace Stevenson. Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen, Mr. Bannatyne." Sehr überzeugend. Nicht.

„Willkommen auf Primrose Cottage, Grace." Wenn ich die Miene meines Vaters richtig deute, ist er von ihr durchaus positiv beeindruckt. „Bist du Theos Freundin?" Alter. Nicht dein Ernst, oder?

„Nein!", entgegnet sie entsetzt, als hätte er sie gerade gefragt, ob sie Boris Johnson heiß findet. „Ich bin nur seine Nachhilfelehrerin, sonst nichts."

Fuck. Hätte sie nicht irgendwas anderes antworten können? Auch ohne meinen Vater anzusehen weiß ich, dass seine Miene soeben eingefroren ist. Wahrscheinlich guckt er in diesem Augenblick genauso doof aus der Wäsche wie ein Schneemann, dem seine rote Karottennase abgefallen ist. Die Stille im Raum ist bedrückend. Und das ist alles Graces Schuld.

„Wie bitte?" Dads Stimme ist eisig und sein schottischer Akzent ist plötzlich deutlich rauszuhören. Kein gutes Zeichen. Seine blauen Augen treffen meine. „Habe ich das gerade richtig verstanden? Du brauchst Nachhilfe? Hast du mir nicht letztens erst erzählt, dass in der Schule alles glatt läuft?"

„Läuft's ja auch", antworte ich zähneknirschend. „Das war Mr. Johnsons Idee. Ich würde vorschlagen, wir klären das später in Ruhe, okay?" Meinetwegen lasse ich mir nachher von ihm die Ohren langziehen. Allerdings nur, wenn keiner dabei zuschaut.

„Darauf kannst du dich verlassen." Seine Kieferknochen treten hervor und der Blick, den er mir zuwirft, bevor er sich zum Gehen wendet, kündigt drohendes Unheil an. „Auf Wiedersehen, Grace", sagt er noch, ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.

„Du gehst am besten auch gleich." Ich klinge so dumpf, dass ich mich selbst nicht wiedererkenne. Wütend stiere ich Grace an, die innerhalb von Sekunden zum Sinnbild all meiner Probleme mutiert ist. Hätte sie doch einfach ihre Klappe gehalten.

„Meinst du das ernst?" Ihre Gesichtsfarbe wechselt von Zartrosa zu Kalkweiß. Offensichtlich versteht sie nicht, wieso ich sie so plötzlich loswerden will. „Was kann ich denn jetzt dafür?"

„Eine ganze Menge!", fauche ich sie an, weil sie nun mal den perfekten Sündenbock abgibt. „Musstest du das mit der Nachhilfe sagen? Hättest du ihm nicht irgendwas anderes erzählen können? Bist doch sonst so superschlau!"

Ich weiß, dass es unfair ist. Dass ich mich gerade wie ein Arschloch aufführe. Aber ich kann mich nicht bremsen. Diese Frustration und die Wut, die sich über Monate hinweg in mir angestaut haben, suchen ein Ventil. Graces ehrliche Antwort war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Das Problem ist nur, dass sie davon keine Ahnung hat.

Ungläubig starrt sie mich an. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, sie zweifelt an meinem Verstand. „Wie du willst", sagt sie tonlos. Ein verstörter Ausdruck liegt in ihren Bambi-Augen. „Dann gehe ich eben. Aber glaub bloß nicht, dass ich nochmal wiederkomme." Ihre Hände zittern, während sie hastig ihre Sachen zusammensucht.

„Umso besser", schnaube ich aufgebracht. „Du weißt ja, wo die Tür ist. Ach, und Grace? Vergiss dein Mathebuch nicht!"

Da ist er, der erste richtige Krach :D seid ihr #TeamTheo oder mehr #TeamGrace? Übrigens: Vielen Dank für 1k Reads in so kurzer Zeit! Ihr seid die Besten <3


3 sind 2 zu vielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt