Es ist dämmrig in meinem Zimmer. Licht spenden nur meine Nachttischlampe und diverse Lichterketten, die ich an allen möglichen Ecken angebracht habe, um für eine harmonische Stimmung zu sorgen. Draußen ist es längst stockfinster, denn wir haben bereits nach zehn. Eigentlich sollte ich langsam schlafen, aber irgendwie finde ich keine Ruhe.
Ich liege zwar schon seit einer Stunde im Bett, allerdings nicht mit einem spannenden Buch, sondern mit meinem Mathehefter vor der Nase. Normalerweise kann ich mir den Stoff abends besonders gut einprägen, doch heute ist es anders. Ständig lasse ich mich ablenken. Entweder von den Stimmen meiner Eltern, die von Zeit zu Zeit aus dem Erdgeschoss dringen oder von meinen eigenen kreisenden Gedanken.
Aus irgendeinem Grund muss ich immer noch daran denken, was heute Nachmittag auf Primrose Cottage passiert ist. Ich verstehe es ganz einfach nicht. Theodores Verhalten ist mir ein einziges Rätsel. Dass ihm der Auftritt seines Vaters peinlich war, kann ich durchaus nachvollziehen. Mir wäre es an seiner Stelle nicht anders gegangen. Aber ich wüsste gerne, was ihn dazu bewogen hat, mich anschließend vor die Tür zu setzen wie eine Schwerverbrecherin.
Soweit ich weiß, habe ich nichts Falsches getan. Okay, anscheinend wusste Mr. Bannatyne nichts von den Nachhilfestunden, aber wie hätte ich das ahnen sollen? Theodores Reaktion war in jedem Fall total überzogen. So viel schottisches Temperament hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ich finde, er schuldet mir eine Erklärung. Es ist schließlich nicht meine schuld, dass zwischen ihm und seinem Vater einiges im Argen liegt.
Mir fällt auf, dass ich bereits seit fünf Minuten dieselbe Seite anstarre und immer noch nicht weiß, was draufsteht. Seufzend fege ich den Hefter von meinem Bett. Ich glaube, das mit dem Lernen wird heute nichts mehr. Ich sollte einfach das Licht ausknipsen und die Augen schließen. Irgendwann werde ich schon einschlafen. Das hoffe ich zumindest.
Gerade als ich die Hand nach meiner Nachttischlampe ausstrecke, höre ich ein Geräusch an der Tür. Die Klinke wird heruntergedrückt und im nächsten Moment erscheint Scarlett auf der Bildfläche, bewaffnet mit einem voll beladenen Tablett. Sie trägt ihren Snoopy-Pyjama, sieht aber kein bisschen müde aus. Wenn ich sie so anschaue, beschleicht mich das untrügliche Gefühl, dass mir ein langer Abend bevorsteht.
„Kannst du auch nicht schlafen?", fragt meine Schwester und stellt das Tablett auf meinem Nachtschränkchen ab. Der Duft von Früchtetee und Schokokeksen steigt mir in die Nase. Überrascht schaue ich auf. Ein weiterer dunkler Schatten kommt in mein Zimmer geschlichen. Rusty, unser alter Labrador, gähnt herzhaft und streckt sich der Länge nach auf dem Teppich aus.
„Sollen wir uns gegenseitig Gute-Nacht-Geschichten erzählen?", schlage ich schmunzelnd vor und rutsche, um ihr Platz zu machen. Ich bin froh, dass sie da ist.
„Ich dachte eher an ein paar Folgen Gossip Girl", antwortet sie und macht sich prompt so breit in meinem Bett, dass ich zwischen ihr und der Wand eigequetscht bin. Wenigstens kann ich jetzt nicht mehr frieren.
„Gute Idee", sage ich, weil tatsächlich nichts dagegen spricht. „Holst du meinen Laptop?" Das ist das Los Derjenigen, die außen liegt. Scarlett verdreht die Augen, steht aber ohne Murren nochmal auf, um das Gerät von meinem Schreibtisch zu holen.
Wenig später schauen wir unsere Serie, futtern Kekse und trinken Tee mit Apfel-Zimt-Geschmack. Ich bin dankbar für die Ablenkung, auch wenn meine Gedanken immer wieder abschweifen und zu Theodore wandern. Oder zum Wettbewerb. Irgendwie laufen die Vorbereitungen nicht so, wie ich es gerne hätte und das macht mir Angst. Die Zeit rennt und der Druck steigt mit jedem weiteren Tag.
Trotzdem denke ich nicht daran, meine Teilnahme zurückzuziehen. Ich möchte nach wie vor mitmachen – nicht nur, um dabei zu sein. Natürlich möchte ich am Ende auch gewinnen. Meine harte Arbeit soll sich schließlich auszahlen und ich trete nicht an, um Zweite oder Dritte zu werden. Die meisten Menschen mögen dies als übersteigerten Ehrgeiz abtun, aber das kümmert mich nicht. Solange ich mit mir selbst im Reinen bin, spielt es keine Rolle, was andere denken.
Scarletts Kopf ruht schwer auf meiner Schulter. Ihre Augen sind geschlossen und sie lächelt selig im Schlaf. Die Serie muss sie ja echt vom Hocker gehauen haben. Ich grinse und schaue rüber zu Rusty, der auf dem Teppich döst und leise vor sich hin schnarcht. Schön, dass wenigstens die beiden ins Land der Träume gereist sind. Nur ich bleibe wach und hänge weiterhin meinen Gedanken nach.
Irgendwie schaffe ich es, den Laptop runterzufahren und auf den Boden zu stellen, ohne meine Schwester zu wecken. Seufzend sinke ich zurück in die Kissen. Solange Scarlett neben mir liegt, kann ich das mit dem Schlafen sowieso vergessen. Ich fühle mich wie in einer Sardinenbüchse, weil es so eng ist, dass ich kaum Bewegungsfreiheit habe. Abgesehen davon wird es mir langsam, aber sicher zu warm.
Etwas summt unter meinem Kopfkissen und ich halte unwillkürlich den Atem an. Scarlett zuckt leicht zusammen, schläft aber weiter. Vorsichtig taste ich nach meinem Handy, um nachzusehen, wer mich so spät noch stört. Ich gehöre zu den Menschen, die selten Nachrichten bekommen und erst recht nicht mitten in der Nacht. Noch erstaunter bin ich, als ich den Namen des Absenders lese.
Theodore (00:12 Uhr): Hey. Tut mir leid, dass ich dich gestern rausgeworfen habe. Eigentlich hatte es nichts mit dir zu tun.
Grace (00:13 Uhr): Warum hast du es dann getan?
Theodore (00:15 Uhr): Ist kompliziert. Vielleicht erkläre ich es dir irgendwann. Ich verspreche dir aber, dass so was nicht nochmal vorkommt.
Grace (00:16 Uhr): Na schön. Wie's mit der Nachhilfe weitergeht, besprechen wir am besten in der Schule. Gute Nacht.
Theodore (00:17 Uhr): Okay, einverstanden. Schlaf gut, Grace. Und danke.
Seine letzte Nachricht entlockt mir ein gequältes Lächeln. Im Augenblick wünsche ich mir nichts sehnlicher, als einfach einzuschlafen. Schließlich bleiben mir nicht allzu viele Stunden, bis ich wieder aufstehen muss. Ich starte einen neuen Versuch und schließe meine Augen. Wenigstens hat sich die Sache jetzt mehr oder weniger aufgeklärt. Das erleichtert mir das Einschlafen unter Umständen.
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3 sind 2 zu viel
Teen FictionGrace ist ehrgeizig, diszipliniert und eine Musterschülerin. Ihr Ziel? Jahrgangsbeste zu werden und den Landeswettbewerb für Mathematik zu gewinnen. Alles, was sie in irgendeiner Form davon ablenkt, ist tabu. Dementsprechend ist sie nicht begeistert...