12 - Adrien

188 17 4
                                    

Adrien (16:12 Uhr): Hey, sorry, dass ich dich allein gelassen habe. Kommst du klar mit der Streberin?

Theo (16:15 Uhr): Schon okay. Hab sie eben rausgeschmissen.

Adrien (16:17 Uhr): WTF? Warum??

Theo (16:20 Uhr): Erzähl ich dir morgen.

Adrien (16:21 Uhr): Soll ich lieber zurückkommen?

Theo (16:25 Uhr): Nein, geh zu Mrs. Chambers. Das ist wichtiger.

Adrien (16:26 Uhr): Okay, dann bis morgen. Pass auf dich auf.

Theo (16:29 Uhr): Mach ich. Du auch.

Nachdenklich stecke ich mein Handy weg. Ich überlege, ob ich nicht doch umkehren sollte. Es sind beunruhigende Neuigkeiten, die ich soeben erfahren habe. Irgendwie finde ich es zwar ein bisschen lustig, dass Theodore Grace kurzerhand rausgeworfen hat, aber gleichzeitig wundert es mich. Wenn einer von uns beiden zu Ausrastern neigt, dann bin ich das. Er ist normalerweise Derjenige, der sich selbst besser im Griff hat.

Mir ist schon aufgefallen, dass er sich in letzter Zeit anders verhält. Untypisch. Da wären zum Beispiel seine Stimmungsschwankungen oder seine plötzliche Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel. Oder die Tatsache, dass er neuerdings raucht, obwohl er in der Vergangenheit immer wieder betont hat, wie ekelhaft er das findet. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es hat etwas mit seinen Eltern zu tun.

Theodores größter Fehler ist es, dass er seine Probleme bevorzugt mit sich alleine ausmacht. Ich würde ihm gerne helfen, aber das geht nicht, wenn er mir nicht sagt, was ich tun soll. Schon jetzt bin ich gespannt, welche Geschichte ich morgen von ihm zu hören bekomme. Möglicherweise trifft Grace überhaupt keine richtige Schuld daran, dass die Nachhilfestunde etwas eskaliert ist.

Nach einigem Zögern beschließe ich, auf meinen Freund zu hören und wie geplant Mrs. Chambers einen Besuch abzustatten. Er ist schließlich ein großer Junge und kann auf sich selber aufpassen. Bei einer alten, gebrechlichen Dame wie meiner Nachbarin habe ich da so meine Zweifel. Laut Maman hatte sie heute Morgen einen Arzttermin. Da sie nicht mehr die Fitteste ist, sollte jemand bei ihr nach dem Rechten sehen.

Zugegeben, ich habe etwas Angst vor dem, was mich erwartet. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass mit zunehmendem Alter auch das Krankheitsrisiko steigt. Was ist, wenn sie heute beim Arzt irgendeine schlimme Diagnose erhalten hat und jetzt völlig fertig ist? Um ehrlich zu sein, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Wahrscheinlich wäre ich komplett überfordert mit der Situation.

Nervös warte ich wenig später vor ihrer Haustür. Ein paar Minuten, nachdem ich geklingelt habe, erscheint eine äußerst blasse Version von Mrs. Chambers – mit sorgenvoller Miene und ihrem Rollator, auf den sie sich stützt. „Adrien, du bist es", sagt sie und ringt sich ein Lächeln ab. „Komm doch bitte rein!"

„Geht es Ihnen gut?", frage ich besorgt, während ich ihr ins Haus folge. „Sie sehen so traurig aus. Ist, ähm ... ist vielleicht was passiert? Beim Arzt?" Unwillkürlich kreuze ich die Finger in meiner Jackentasche. Bitte, lass sie einfach gesund sein.

„Nein, nein, es ist alles in Ordnung", erwidert Mrs. Chambers und nimmt schwerfällig auf ihrem alten Plüschsofa Platz. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme schon zurecht." Sie lächelt mich an, doch mein ungutes Gefühl bleibt. Ich weiß ganz genau, dass sie ohne Hilfe nicht zurechtkommt.

Mein Blick fällt auf den Esstisch, den sie seit meinem letzten Besuch etwas umdekoriert hat. Statt einer Blumenvase steht dort nun das gerahmte Hochzeitsfoto von ihr und Grant, daneben eine brennende Kerze. Ich kenne das Foto längst und trotzdem sehe ich es mir immer wieder an. Die beiden waren wirklich ein wunderschönes Paar. Sie haben immer zusammengehalten, bis zu ihrem letzten gemeinsamen Tag. Ein perfektes Team eben.

„Sie vermissen ihn", stelle ich leise fest und setze mich zu ihr. „Mir tut es leid, dass es so gekommen ist. Kann ich irgendwas tun, um es für Sie leichter zu machen?" Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie die Antwort lauten wird, aber ich möchte ihr so gerne helfen. Mrs. Chambers war schließlich auch immer für uns da, wenn wir Hilfe gebraucht haben.

Ein weiteres Lächeln huscht über ihr eingefallenes Gesicht. Diesmal sieht es schon etwas echter aus. „Du hast ein großes Herz", sagt sie und tätschelt freundlich meinen Handrücken. „Erzähl mir ein bisschen von dir. Was hast du heute Schönes gemacht nach der Schule?"

Die Nachhilfe zählt für mich nicht unbedingt zu den positiven Ereignissen in meinem Leben, aber da ich heute sonst nichts Spannendes erlebt habe, erzähle ich ihr ein wenig davon. Na ja – eigentlich mehr von Theodore und Grace. Ersteren kennt Mrs. Chambers bereits aus früheren Erzählungen. Der Name Grace ist ihr hingegen fremd und je mehr ich rede, desto nachdenklicher wird ihre Miene.

„Du scheinst dieses Mädchen nicht besonders zu mögen", wirft sie schließlich ein, als ich eine kurze Pause mache. „Warum nicht?" Ist sie irgendwie Hellseherin oder so? Ich habe mit keinem Wort erwähnt, dass ich Grace nicht leiden kann.

Unschlüssig zucke ich die Achseln. „Ich finde sie einfach anstrengend", erkläre ich geradeheraus. „Und nicht besonders sympathisch." Dass ich sie außerdem für eine arrogante Besserwisserin halte, erwähne ich lieber nicht. Aus Rücksicht auf ihre mentale Verfassung möchte ich Mrs. Chambers jegliche überflüssige Negativität ersparen.

Meine Nachbarin mustert mich mit schiefgelegtem Kopf. „Hast du mal mit ihr gesprochen? Außer über die Schule, meine ich." Gott, warum interessiert sie sich denn so sehr für dieses Thema?

„Nein", antworte ich verständnislos. „Warum sollte ich?" Wir sind schließlich keine Busenfreundinnen, die den ganzen Tag aufeinander hängen, um über Gott und die Welt zu quatschen.

„Weil der erste Eindruck nicht immer der richtige sein muss." Mrs. Chambers lächelt nachsichtig. „Ich bin mir sicher, dass deine Grace auch ihre guten Seiten hat. Aber das wirst du nie rausfinden, wenn du nicht mit ihr sprichst."

Meine Grace, ich glaube, ich spinne. Eigentlich lege ich viel Wert auf die Meinung der alten Dame, aber diesmal kann ich mich mit ihrem Rat nicht anfreunden. „Offen gestanden – ich habe kein Interesse daran, es rauszufinden", brumme ich und hoffe, dass wir es einfach dabei belassen können.

Ganz so leicht will Mrs. Chambers es mir aber nicht machen. „Jeder Mensch hat eine Chance verdient", meint sie und sieht mich ernst an. „Denk doch nur an dich und deine Mutter. Was wäre gewesen, wenn keiner einen Schritt auf euch zu gegangen wäre, als ihr damals aus Frankreich hierher gezogen seid? Ihr habt euch über jede Hand gefreut, die euch gereicht wurde. Zu Recht. Man sollte jemanden nicht ablehnen, nur weil man ihn nicht kennt. Dann säßen wir beide heute auch nicht hier."

Ich seufze klammheimlich. Selbst wenn ich wollte, könnte ich ihr nicht widersprechen. Meine Motivation, mich auf einer freundschaftlichen Ebene mit Grace auseinanderzusetzen, hält sich zwar nach wie vor in engen Grenzen, aber ich bin meiner Nachbarin dennoch dankbar, weil sie mich an etwas erinnert hat.

Nämlich daran, wie abhängig Maman und ich früher von der Freundlichkeit unserer Mitmenschen waren. Selbst für mich war das eine prägende Erfahrung, obwohl ich damals noch ein kleiner Pimpf war, der nicht allzu viel von dem mitbekommen hat, was um ihn herum passiert ist.

„Sie haben Recht, Mrs. Chambers", höre ich mich sagen und ich meine es tatsächlich ernst. Meine zwischenzeitliche Missstimmung ist so schnell verflogen, wie sie aufgetaucht ist. „Vielen Dank für die Erinnerung."

Die alte Frau lächelt wieder. Diesmal kommt es von Herzen. „Keine Ursache", entgegnet sie großzügig. „Und damit du es nicht vergisst: Ich bin froh, dich zu kennen, Adrien."


3 sind 2 zu vielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt