5 - Theodore

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Französisch ist eines meiner liebsten Fächer. Nicht nur, weil ich die Sprache einigermaßen beherrsche und neben dem Klassenprimus sitze, sondern auch wegen der genialen Aussicht. Nein, ich meine nicht unseren hässlichen grauen Schulhof, den man sieht, wenn man aus dem Fenster guckt. Die Aussicht, die sich mir in jeder Stunde bietet, ist groß, schlank und hat lange, schwarze Haare.

Lucille Noir, ihres Zeichens Französisch-und Musiklehrerin, stammt ursprünglich aus Rouen und ist als junge Frau nach England gezogen, um hier zu studieren. Meiner Meinung nach hätte sie auch problemlos als Model Karriere machen können und ich schätze, alle Jungs, die bei ihr Unterricht haben, sehen das genauso wie ich.

Mademoiselle Noir besitzt nahezu magische Anziehungskräfte. In ihren Kursen wollen alle freiwillig vorne sitzen, sogar Diejenigen, die in Französisch richtige Nieten sind. Adrien und ich können von Glück reden, dass wir zu Beginn des Schuljahres einen Tisch gleich neben dem Lehrerpult ergattert haben. So macht der Unterricht gleich doppelt so viel Spaß.

Schwärmereien von Schülern, die Grenzen überschreiten, findet Mademoiselle Noir dagegen eher weniger spaßig. Erst letztens ist ein Typ aus unserem Jahrgang von der Schule geflogen, weil er Nacktbilder von sich an ihre private E-Mail-Adresse verschickt hat. Ich schätze, sein knallharter Schulverweis hat viele andere davon abgehalten, es ihm gleichzutun.

Ich für meinen Teil bin nicht mehr so verknallt in sie, seit ich rausgefunden habe, dass zwischen ihr und einem der Sportreferendare etwas läuft. Diese Erkenntnis war schmerzhaft, aber letztendlich hat sie mich geheilt. Außerdem fällt es mir jetzt leichter, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Davor habe ich immer nur die Hälfte mitbekommen, weil ich in Gedanken zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war.

Gerade besprechen wir die Hausaufgaben. In der letzten Stunde haben wir den französischen Film Faubourg 36 geguckt und sollten für heute eine schriftliche Analyse von mindestens zwei Seiten verfassen – selbstverständlich en français. Ich bin froh, dass Adrien mir dabei geholfen hat. Analysen schreiben zählt nämlich nicht gerade zu meinen Stärken.

Wie immer pickt sich Mademoiselle Noir drei, vier Schüler raus, die ihre Hausaufgaben vorlesen müssen. Viele melden sich aus freien Stücken, darunter auch Adrien. Ein bisschen muss ich schon schmunzeln. Es ist wirklich interessant zu sehen, wie jemand, der die Schule eigentlich hasst, plötzlich zu einem waschechten Streber mutiert. Er könnte glatt Grace Konkurrenz machen.

Nach ihrem gestrigen Überfall in der Cafeteria sind wir sofort zu Mr. Johnson gegangen, um ihm mitzuteilen, dass wir seinen Scherz nicht komisch finden. Tja, leider hat sich herausgestellt, dass die Nummer mit der Nachhilfe sein voller Ernst ist. Obwohl meine Noten soweit in Ordnung sind, soll ich daran teilnehmen, um es für Adrien leichter zu machen. Laut Mr. Johnson wird er Graces Hilfe eher annehmen, wenn ich dabei bin.

In diesem Punkt muss ich ihm ausnahmsweise Recht geben. Adrien ist zwar mein bester Freund, aber er kann manchmal etwas schwierig sein und ich denke, es wäre keine gute Idee, Grace mit ihm alleine zu lassen. Natürlich habe ich ebenso wenig Bock auf die Nachhilfestunden wie er, aber wir wissen beide ganz genau, dass Mr. Johnson am längeren Hebel sitzt. Gegen ihn haben wir sowieso keine Chance.

„Merci, Adrien, das war très bien", sagt Mademoiselle Noir, nachdem er seine Filmanalyse laut vorgelesen hat und schenkt ihm ein entwaffnendes Lächeln, bevor sie sich an den Rest des Kurses wendet. „Wer möchte weitermachen?"

Ein Dutzend Hände schnellen bereitwillig in die Höhe. Ich lasse den anderen den Vortritt und melde mich nicht, auch weil im selben Moment plötzlich mein Handy vibriert. Glücklicherweise bekommt es keiner mit. Während eine Mitschülerin ihre Hausaufgaben präsentiert und sich auf diese Weise die Aufmerksamkeit unserer Lehrerin sichert, schaue ich heimlich nach, wer mir geschrieben hat.

Mein Dad. Eine Textnachricht finde ich nicht, dafür aber ein Foto, auf dem zwei verschiedene Rucksäcke zu sehen sind. Beide sind augenscheinlich aus Echtleder und dementsprechend schweineteuer, wie ich vermute. Sekunden später erscheint eine weitere Nachricht von meinem Vater.

Dad (11:48 Uhr): Welchen willst du haben?

Gereizt schüttele ich den Kopf. Die Masche mit den Bestechungsgeschenken zieht bei mir schon lange nicht mehr. Tatsächlich könnte ich einen neuen Rucksack gut gebrauchen, weil mein eigener ziemlich abgewetzt und mitgenommen aussieht, aber ich möchte Dad auf keinen Fall das Gefühl geben, dass sein Plan funktioniert. Ich brauche keine krassen Geschenke von ihm.

Über ein einfaches „Wie geht's dir?" würde ich mich tausendmal mehr freuen als über irgendeinen blöden Designer-Rucksack, selbst wenn er noch so teuer wäre. Mich ärgert es, dass Dad immer noch glaubt, ich würde mir etwas aus materiellen Dingen machen, obwohl er es als mein Vater eigentlich besser wissen müsste. Ein klarer Beweis dafür, dass er in den letzten siebzehn Jahren zu wenig Zeit mit mir verbracht hat.

„Theodore?" Hastig schaue ich auf und sehe Mademoiselle Noir mit wehenden Haaren auf mich zukommen. Ihr lauernder Gesichtsausdruck verheißt nichts Gutes. „Da du gerade so konzentriert bei der Sache bist – wie heißt der Immobilienmakler, dem das Chansonia gehört?"

Fuck. Ich habe absolut keinen Plan, wovon sie redet. Was für ein Immobilienmakler? Neben mir kritzelt Adrien eilig etwas auf den Rand seines Collegeblocks. Gut, dass ich zu den wenigen Menschen gehöre, die seine gruselige Handschrift entziffern können. „Galapiat", lese ich laut vor und hoffe inständig, dass dies die richtige Antwort ist.

Mademoiselle Noir lächelt müde. „Sehr gut", sagt sie anerkennend. „Das nächste Mal aber ohne die Hilfe von Adrien, in Ordnung?"

„D'accord", antworte ich folgsam und lasse das Handy unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden. Nochmal Glück gehabt.

Ich raune meinem Sitznachbarn ein Dankeschön zu, doch er scheint mich gar nicht zu bemerken. Seine volle Aufmerksamkeit gilt Mademoiselle Noir, die soeben angefangen hat, die Tafel zu wischen. Irgendwie schafft sie es, sogar dabei eine gute Figur zu machen. Der nasse Schwamm gleitet ihr aus den Händen und als sie sich danach bückt, wird uns ein einmaliger Blick auf ihre pralle Kehrseite gewährt.

„Chaude comme la braise", kommentiert Adrien sichtlich angetan, aber leider nicht leise genug. Nicht nur ich höre ihn, sondern auch alle anderen, inklusive Mademoiselle Noir.

Langsam dreht sie sich zu uns um. „Wie bitte?", fragt sie stirnrunzelnd, während vereinzelte Lacher laut werden. „Was hast du gerade gesagt?"

„Nichts", antwortet Adrien prompt, überlegt es sich dann jedoch anders. „Also, ähm ... eigentlich hab ich Theo gemeint." Wie auf Kommando brechen alle in brüllendes Gelächter aus und auch ich kann nicht anders, als miteinzustimmen.

„Merci, mon amour", sage ich zu meinem etwas überfordert wirkenden besten Freund, sobald ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe. „Keine Angst, ich kann dich verstehen. Ich finde mich auch ziemlich heiß."

Und die Moral von der Geschicht? Sich rauszureden, lohnt sich nicht! :D


3 sind 2 zu vielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt