Schlaftrunken blinzle ich in die Dunkelheit. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, aber meine innere Uhr sagt mir, dass es bereits weit nach Mitternacht sein muss. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich endgültig wach bin. Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Etwas drückt hart auf meine Blase und ich schätze, das ist der Grund, wieso ich aus dem Schlaf hochgeschreckt bin.
Ohne das Licht anzuschalten, taste ich mich blind vorwärts, bis ich etwas Warmes, Pelziges zu fassen kriege. Ich fluche lautlos. Coco hat sich in mein Bett geschlichen und ausgerechnet meinen Bauch als idealen Platz zum Liegen auserkoren. Wann kapiert dieses blöde Hundevieh endlich, dass ich nicht ihr Freund bin und auf gar keinen Fall mein Bett mit ihr teilen möchte?
Unwirsch schiebe ich sie von mir runter, doch davon lässt Coco sich nicht aus der Ruhe bringen. Seelenruhig pennt sie weiter, während ich immer noch das Gefühl habe, dringend auf die Toilette zu müssen. Na klasse. Ich verspüre nicht die geringste Lust, aus meinem warmen, gemütlichen Bett aufzustehen, aber was bleibt mir schon anderes übrig.
Seufzend schwinge ich meine Beine über die Bettkante und schlurfe zur Tür. In unserem schmalen Flur ist es dunkel, genauso wie im Wohnzimmer. Nur aus der geöffneten Küchentür dringt ein schwacher Lichtschein. Gedämpfte Stimmen sind zu hören. Ich stutze, weil ich eigentlich davon ausgegangen bin, dass Noel und meine Mutter längst schlafen.
Eigentlich will ich sie nicht belauschen, doch ein Satz von Maman lässt mich aufhorchen. „Mir kannst du es doch sagen." Ihr Tonfall ist wesentlich sanftmütiger als sonst. „Ich sehe dir an, dass etwas nicht stimmt. Also, wieso bist du wirklich hier?"
Spontan vergesse ich meine volle Blase und nähere mich auf leisen Sohlen der Küchentür. Meine Mutter und mein Cousin sitzen am Tisch, beide mit einem Glas Rotwein vor der Nase. Erstere mustert Noel abwartend, doch er erwidert den Blick nicht, sondern starrt gedankenverloren in sein Glas. Zum Glück bemerkt keiner von ihnen meine Anwesenheit.
„Maman und ich hatten einen Streit." Noels Stimme klingt dumpf, als spräche er durch einen Knebel. „Sie meint, ich soll endlich was Anständiges lernen und mir den Musik-Scheiß aus dem Kopf schlagen. Außerdem will sie, dass ich meine Freundin verlasse, weil sie mich sonst rausschmeißt."
Heimlich verdrehe ich die Augen. Typisch Tante Sylvie. Zwischen ihr und Noel herrscht eine Art Dauerkonflikt, seit er seinen Abschluss vermasselt und sich als DJ einen Namen gemacht hat. In ihrer Welt ist das kein richtiger Beruf, dabei sieht jeder Blinde, dass Noel etwas von seinem Handwerk versteht. Warum sie verlangt, dass er mit Isabelle Schluss macht, kapiere ich erst recht nicht. Womöglich hat sie es sich zum Ziel gesetzt, alles zu zerstören, was ihm Freude bereitet.
„Na ja", sagt Maman langsam. „Es könnte tatsächlich nicht schaden, wenn du nebenbei eine Ausbildung anfängst. Die Musik ist kein sicheres Pflaster. Da hat meine Schwester schon Recht. Aber wieso, zum Kuckuck, sollst du deine Freundin verlassen? Ihr seid doch noch gar nicht so lange zusammen, oder?"
Noel trinkt einen großen Schluck Wein und knallt sein Glas anschließend so heftig auf den Tisch, dass der Inhalt beinahe überschwappt. „Weil meine Alte mir gerne das Leben schwer macht." C'est bien vrai, mon frérot.
„Attention!", weist Maman ihn scharf zurecht. „Sprich nicht so respektlos über deine Mutter. Erzähl mir lieber von diesem Mädchen. Wie heißt sie überhaupt und wo hast du sie kennengelernt?"
Mein Cousin verzieht den Mund angesichts ihres Tadels. „Ihr Name ist Isabelle", sagt er dann und plötzlich fangen seine Augen an zu strahlen. „Ich hab sie in 'nem Club kennengelernt. Sie arbeitet dort als ... Gogo-Tänzerin." Er zögert, als er das sagt. Aber ich verstehe nicht, warum. Ist doch schließlich nichts dabei.
Maman räuspert sich, bevor sie reagiert. „Wie ich meine Schwester kenne, hat sie ein Problem damit. Stimmt's?" Du siehst das hoffentlich anders als sie.
„Natürlich", knurrt Noel und kippt noch mehr Rotwein runter. „Dabei macht Isabelle das nur, um ihr Studium zu finanzieren. Sie studiert Geowissenschaften, aber ihre Familie hat's nicht so dicke. Neben dem Tanzen arbeitet sie auch noch als Kellnerin in einem Café. Aber das interessiert meine Mutter natürlich nicht."
Ich höre die Bitterkeit und die Wut in seiner Stimme. Auch ich bin wütend – auf meine dumme Tante, die wieder einmal querschießt. Genau wie Noel habe ich regelmäßig Schwierigkeiten mit ihr, jedoch nur während der Ferien. In der Zwischenzeit kann ich ihr bequem aus dem Weg gehen, worüber ich ausgesprochen froh bin. Auf Dauer würde ich mit ihrer konservativen, dickköpfigen Art definitiv nicht klarkommen.
„Mach dir keine Sorgen", sagt Maman aufmunternd. „Zur Not rede ich mal mit Sylvie. Sie wird sich schon wieder einkriegen, glaub mir. Wie steht denn eigentlich Isabelle zu der ganzen Sache?" Gute Frage. Würde mich auch interessieren.
Noel zögert erneut. „Na ja ... ehrlich gesagt kennt sie die genauen Hintergründe nicht. Sie weiß nur, dass meine Mutter und ich einen Streit hatten und ich danach sofort zum Bahnhof bin, um hierher zu fahren. Das alles war total spontan, es gab keine Zeit für Erklärungen. Ich muss das mit ihr klären, sobald ich wieder in Montrouge bin."
Maman drückt über den Tisch hinweg kurz seine Hand. „Ihr schafft das schon", meint sie zuversichtlich. „Auch wenn es sicher nicht die klügste Entscheidung war, ohne ein Wort zu deiner Familie nach England abzuhauen." Da ist was dran.
Mein Cousin nickt schuldbewusst. „Ich weiß." So wie er klingt, hat er seinen Fehler längst eingesehen. Im Gegensatz zu Tante Sylvie sucht er die Schuld nämlich nicht bei anderen, sondern bei sich selbst.
Die beiden verfallen in Schweigen und ich möchte den Moment nutzen, um endlich pinkeln zu gehen. Wenn ich hier noch länger rumstehe, passiert bald ein Unglück. Doch gerade, als ich mich den Flur entlang ins Bad schleichen will, ergreift meine Mutter wieder das Wort. Mir entfährt ein stilles Seufzen. Ihr verdammter Ernst?
„Hat sich Olivier in letzter Zeit nochmal gemeldet?" Noels Vater, mein Onkel, dient der französischen Armee und ist derzeit als Kampfpilot in der Elfenbeinküste stationiert. Ich weiß, dass er ihn oft vermisst und sich um ihn sorgt, zumal der Kontakt schwierig ist. Längere Telefonate sind selten, von Besuchen in der Heimat mal ganz zu schweigen.
„Er hat uns letztens 'nen Brief geschrieben." Wieder starrt Noel in sein Glas, das mittlerweile fast leer ist. „Ich find's richtig beschissen, dass er immer so lange weg ist. Wir sehen uns gefühlt dreimal im Jahr und dann nur für ein paar Tage. Ich weiß nicht mal, wann er das nächste Mal wieder kommt."
Maman seufzt leise. In ihren Augen liegt ein trauriger Ausdruck. „Das tut mir leid für dich. Für euch." Mir auch.
Plötzlich hebt Noel den Kopf und sieht ihr direkt ins Gesicht. „Wann sagst du Adrien endlich, wer sein Vater ist?" Ich zucke unwillkürlich zusammen, als ich meinen Namen höre. Die Frage habe ich nicht kommen sehen.
Meine Mutter wirkt genauso überrascht, wie ich mich fühle. „Ich ... das ist jetzt nicht das Thema", versucht sie kläglich auszuweichen, doch ihr Neffe lässt nicht locker.
„Doch, ist es", bekräftigt er mit Nachdruck. „Ich weiß sehr gut, wie es ist, wenn man seinen Vater vermisst. Ihm geht es schon sein ganzes Leben lang so. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, Klartext zu reden? Adrien ist schließlich kein Baby mehr." Exakt.
Am liebsten würde ich zu meinem Cousin hingehen und ihn umarmen, aber ich halte mich zurück. Schließlich sollen weder er, noch Maman jemals etwas von meinem kleinen Lauschangriff erfahren. Schon klar, es ist nicht besonders nett, die eigenen Verwandten zu belauschen, doch ich bin tatsächlich froh darüber, dass ich es getan habe. Auf jeden Fall bin ich jetzt schlauer als vorher.
Leider rückt Maman trotz Noels Ansage nicht mit der Sprache raus. „Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt", erwidert sie ruhig, aber bestimmt. „Irgendwann wird er es schon erfahren. Aber wann es so weit ist, entscheide ich ganz alleine. Und dabei bleibt's."
Ich habe genug gehört. Auf Zehenspitzen ziehe ich mich zurück und husche ins Bad, bevor ich mir wirklich in die Hosen pisse. Hoffentlich bleiben die beiden noch ein paar Minuten in der Küche, damit ich mich nach meinem Toilettenbesuch unbemerkt in mein Zimmer verziehen kann. Weiß Gott, wann Maman mir beichtet, wer mein Vater ist. Falls sie weiterhin auf den richtigen Zeitpunkt wartet, werde ich es vermutlich nie erfahren.
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3 sind 2 zu viel
Teen FictionGrace ist ehrgeizig, diszipliniert und eine Musterschülerin. Ihr Ziel? Jahrgangsbeste zu werden und den Landeswettbewerb für Mathematik zu gewinnen. Alles, was sie in irgendeiner Form davon ablenkt, ist tabu. Dementsprechend ist sie nicht begeistert...