26 - Theodore

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Gestern sind meine Eltern spätabends aus Berlin zurückgekommen. Ich habe so getan, als würde ich schon schlafen, um nicht mit ihnen reden zu müssen. Oder eher, um nicht mit meinem Vater reden zu müssen. Eine Woche inklusive heftigem Alkoholabsturz hat nicht gereicht, um zu vergessen, was zwischen uns beiden vorgefallen ist.

Ich vermute, diesmal hat er darauf verzichtet, mir irgendwelche Luxusgüter aus Deutschland mitzubringen, denn erstens wird er seinen ungezogenen Sohn wohl kaum beschenken wollen und zweitens weiß er genauso gut wie ich, dass selbst das teuerste Geschenk der Welt diese Sache nicht geradebiegen könnte. Eine Entschuldigung wäre dagegen ein guter Anfang, aber ich schätze, darauf kann ich lange warten.

Zum Glück mussten Mum und Dad heute beide ziemlich früh raus, sodass ich ihnen nicht begegnet bin, als ich das Haus gegen Viertel nach Sieben in Richtung Schule verlassen habe. Der Tag war nicht besonders ereignisreich, abgesehen von einer unglaublich zähen Physikklausur, die sogar mir den einen oder anderen Nerv geraubt hat. Nicht, weil die Aufgaben so kompliziert waren, sondern weil ich extreme Schwierigkeiten hatte, mich zu konzentrieren.

Letztendlich bin ich aber rechtzeitig fertig geworden und habe Adrien abschreiben lassen, der die meiste Zeit während der Klausur damit verbracht hat, Löcher in die Tischplatte zu starren. Mrs. Chambers' Tod ist definitiv nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Nachdem ich fertig war und mein Blatt offen hingelegt habe, musste er in knapp zehn Minuten alles aufschreiben, weil ihm mehr als die Hälfte gefehlt hat.

Irgendwie hat er das geschafft, auch wenn wir zwischendurch beinahe von Mr. Johnson erwischt wurden, der die Aufsicht hatte und wie ein Schießhund zwischen den Sitzreihen rumgeschlichen ist. Einmal ist er direkt an unserem Tisch vorbeigetigert und ich bin mir ziemlich sicher, dass er unsere Schummelei bemerkt haben muss, sofern er nicht blind ist. Statt unsere Blätter einzuziehen und uns beiden ein F zu verpassen, hat er jedoch so getan, als wäre ihm nichts aufgefallen. Schon cool, wenn ich so darüber nachdenke.

Dass Adrien so mies drauf ist, finde ich natürlich nicht besonders cool und dass ich ihn nicht wirklich aufheitern kann, noch viel weniger. Ich bin bloß froh, dass Noel momentan bei ihm ist, weil er nicht einmal Lust hatte, nach der Schule irgendwas mit mir zu unternehmen. Dabei könnte er ein bisschen Ablenkung definitiv gebrauchen. Selbstverständlich verstehe ich aber, dass es ihm zurzeit nicht gut geht und er lieber alleine sein möchte.

Nun verbringe ich also meinen Nachmittag damit, alleine am Klavier zu sitzen und zu üben, während Garfield mir netterweise Gesellschaft leistet. Meine Mum scheint auch da zu sein, denn ihr Auto steht draußen vor der Tür. Bisher habe ich sie aber noch nicht gesehen. Dieses Haus ist Gott sei Dank groß genug, dass man sich bequem aus dem Weg gehen kann. Mit Mum habe ich zwar keinen Stress, bin jedoch trotzdem nicht scharf darauf, mit ihr zu sprechen.

Leider ist es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis sie im Wohnzimmer erscheint, um mir beim Klavierspiel über die Schulter zu schauen. Auf der Suche nach Fehlern, immerhin war sie früher meine Lehrerin. Dieser Gedanke führt dazu, dass ich mich beobachtet fühle und dementsprechend nicht richtig bei der Sache bin. Meine Version von Beethovens Für Elise klingt stellenweise so, als wären meine Finger mit Sekundenkleber fixiert.

Irgendwann nähern sich tatsächlich Schritte hinter mir. Garfield, der oben auf dem Klavier liegt, springt schwerfällig runter, um meiner Mum entgegen zu laufen. Sein pelziger Schwanz streift dabei meine Wange. Unwillkürlich zucke ich zurück und wäre beinahe rückwärts vom Hocker gesegelt, doch ich finde gerade noch rechtzeitig mein Gleichgewicht wieder. Das war knapp.

„Alles in Ordnung?", fragt Mum, die mit einer Hand Garfields Specknacken krault und mit der anderen etwas hinter ihrem Rücken versteckt hält. Dabei mustert sie mich wie jemanden, von dem sie weiß, dass er etwas zu verbergen hat.

„Logisch", brumme ich, setze mich aufrecht hin und klappe den Deckel zu. Ich werde sicher nicht weiterspielen, solange sie im Raum ist, um ihr keinen Grund zu geben, mich für meine Fehler zu kritisieren. Darauf kann ich im Augenblick gut und gerne verzichten.

„Sicher?" Ihr Blick wird noch eine Spur intensiver, ehe sie mir zeigt, was sie in ihrer anderen Hand hält: Die leere Whisky-Flasche, die eigentlich längst im Altglas liegen sollte. Scheiße. „Kannst du mir erklären, wie die in meine Garage kommt? Dein Vater hat sie mit Sicherheit nicht dort hingestellt und ich auch nicht. Also?"

Und ob ich ihr das erklären kann. Die Frage ist nur, will ich das überhaupt? Zwei Tage nach meinem Alkoholexzess habe ich beschlossen, die leergesoffene Flasche vorerst in Mums Garage zu deponieren, damit sie drinnen nicht im Weg rumsteht und ich sie nicht länger sehen muss. Mein ursprünglicher Plan war es, das Ding vor der Rückkehr meiner Eltern verschwinden zu lassen, doch aus irgendeinem Grund habe ich es vergessen. Manchmal bin ich eben doch ein Trottel.

Als Mum merkt, dass sie vergeblich auf eine Antwort wartet, räuspert sie sich vielsagend. „Ich war übrigens vorhin in deinem Zimmer, weil ich den Kater gesucht habe. Du hast dein Fenster offengelassen und ich wollte es zumachen, damit er nicht rausspringt. Interessant, was man dabei alles so findet. Falls du glaubst, dass durch Tabak und Marihuana deine Blumen besser wachsen, muss ich dich enttäuschen." Verdammte Scheiße.

Es kommt selten vor, dass ich um Worte verlegen bin, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was ich darauf erwidern soll. Ich bin so perplex darüber, dass sie mein idiotensicher geglaubtes Versteck entdeckt hat, dass es mir schlichtweg die Sprache verschlagen hat. Scheint so, als wäre ich von allen der größte Idiot hier. Mit offenem Mund starre ich meine Mutter an, deren ernste Miene keine Zeichen von Wut erkennen lässt.

„Du musst mir natürlich nicht erzählen, was du so getrieben hast, während wir weg waren", sagt sie ruhig. „Aber glaub bitte nicht, mir wäre nicht aufgefallen, dass du dich verändert hast. Was auch immer der Grund dafür ist, du kannst mit mir darüber sprechen, wenn du willst. Und noch etwas: Alkohol und Drogen lösen keine Probleme. Ich hoffe, das ist dir klar."

Mum wartet noch einen Moment, um mir die Chance zu geben, mich zu äußern, doch ich schweige weiter. Ich möchte nicht reden. Würde ich jetzt anfangen, ihr all das zu erzählen, was mich bewegt, säßen wir bis morgen früh hier. Ich denke, sie hat darauf genauso wenig Bock wie ich. Ihr Blick wirkt etwas enttäuscht, als sie schließlich aufsteht und sich zum Gehen wendet.

„Warte", höre ich mich plötzlich aus einem inneren Impuls heraus sagen. „Bereust du es eigentlich auch manchmal, dass ihr euch damals für mich entschieden habt?" Bitte, sag nichts Falsches.

Mum hält inne, dreht sich zu mir um und starrt mich an, als hätte ich sie gerade gefragt, ob sie in Wirklichkeit meine Schwester ist. „Wie bitte?", fragt sie ungläubig. „Wie kommst du darauf?"

Er hat ihr also nichts von unserem Streit erzählt. Oder vielleicht doch, aber dann hat er ihr bewusst entscheidende Einzelheiten vorenthalten. Ärger kocht in mir hoch, wie so oft in letzter Zeit. Echt ein toller Typ, mein Vater. Charismatisch, extrem erfolgreich und von Grund auf ehrlich. Nicht. Loyalität gegenüber der eigenen Familie scheint für ihn jedenfalls ein rotes Tuch zu sein.

„Frag Dad", antworte ich gereizt, weil ich keine Lust habe, die unangenehmen Details unserer Auseinandersetzung wiederzugeben. Das soll gefälligst mein Vater übernehmen. Wenn er mir ins Gesicht sagen konnte, dass ich in seinen Augen nichts weiter als ein Unfall bin, dann wird es wohl kaum ein Problem für ihn darstellen, Mum dasselbe zu erzählen.

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, zählt sie gerade Eins und Eins zusammen. „Das werde ich", entgegnet sie mit fester Stimme. „Und um deine Frage zu beantworten: Ich möchte keinen Tag ohne meinen Sohn sein." Mit diesen Worten verlässt sie das Wohnzimmer und ich bleibe alleine zurück.

Kaum ist sie weg, greife ich nach meinem Handy und öffne WhatsApp. Ich brauche irgendwen, mit dem ich mich sofort treffen kann, um auf andere Gedanken zu kommen. Adrien scheidet aus, weil er genug eigene Probleme hat, mit denen er fertig werden muss. An Grace denke ich gar nicht erst, weil sie sich garantiert nicht meinetwegen von ihrem Mathebuch loseisen wird. So kommt es, dass ich Hailey anrufe. Einfach nur, weil ich Ablenkung brauche.

Mögt ihr Theodore eigentlich? Oder eher nicht so? Würde mich mal interessieren :)


3 sind 2 zu vielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt