Die erste Nachhilfestunde nervt mich schon, bevor sie überhaupt angefangen hat. Nach der letzten Stunde laufe ich so schnell wie möglich nach Hause und habe dort ungefähr eine halbe Stunde Zeit, um etwas zu essen und mir andere Klamotten anzuziehen. Danach muss ich auch schon wieder los, damit ich den Bus nicht verpasse, der mich auf direktem Weg nach Henbury bringt.
Ausnahmsweise regnet es heute nicht, dafür ist es extrem windig und kalt. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und senke den Kopf, weil mir der Februarwind unnachgiebig ins Gesicht peitscht. Alles nur wegen Mr. Fucking Johnson, denke ich grimmig und schaue auf die Uhr. Noch acht Minuten. Ich muss einen Zahn zulegen, sonst habe ich ein Problem.
Wenigstens liegt die Haltestelle nicht allzu weit von meinem Zuhause entfernt. Gefühlt bin ich diese Strecke schon eine Millionen Mal gegangen. Auf jeden Fall so oft, dass ich mich selbst mit verbundenen Augen nicht verlaufen würde. In der Ferne erkenne ich die Umrisse des Ashton Gate Stadiums und sofort werden schmerzhafte Erinnerungen in mir wach – wie immer, wenn ich hier vorbeikomme.
Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, in der ich jeden Tag nach der Schule zum Training gegangen bin. Meistens bin ich erst abends wieder nach Hause gekommen – ausgepowert und völlig erledigt, aber glücklich. Ich habe es geliebt, ein Spieler des Bristol City F. C. zu sein, jedes Wochenende auf dem Platz zu stehen und alles für mein Team zu geben. Wenn doch nur dieses eine Foul nicht gewesen wäre.
Sofort habe ich wieder diesen typischen Krankenhausgeruch in der Nase, den Geruch von Desinfektionsmitteln und Verbandszeug. Ich habe das Bild des Oberarztes vor Augen, der mich operiert hat. Dank ihm kann ich heute wieder ohne Schmerzen laufen und Sport treiben, auch wenn sich nach wie vor eine Metallplatte in meinem linken Knie befindet. Meinen Traum vom Fußballspielen konnte er aber leider nicht reparieren. Niemand kann das.
Der Kloß in meinem Hals ist noch da, als ich kurz darauf die Haltestelle erreiche. Keine zwei Minuten später biegt der Bus in die Straße ein. Die anderen Leute ignorierend, suche ich mir einen freien Platz und hoffe einfach, dass sich keiner neben mich setzt. Mir ist momentan nicht nach fremder Gesellschaft.
Ich schreibe Theodore eine kurze Nachricht, damit er weiß, dass ich unterwegs bin und nicht etwa glaubt, ich würde die Nachhilfe schwänzen. Es tut mir leid für ihn, dass er quasi meinetwegen mit an Bord ist, obschon das in erster Linie Mr. Johnsons Schuld ist und nicht meine. Schließlich ist er auf die bescheuerte Idee gekommen, uns diese Streberin Grace auf den Hals zu hetzen.
Nach einer Weile vibriert mein Handy, doch die Nachricht, die ich soeben erhalten habe, ist nicht von Theodore, sondern von Noel. Offenbar hat mein Cousin mit akuter Langweile zu kämpfen, denn er möchte wissen, was ich gerade mache. Etwas lustlos tippe ich eine Antwort.
Adrien (14:45 Uhr): Bin im Bus, hab gleich Nachhilfe. Kein Bock auf den Scheiß.
Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm in Frankreich. Ich liebe Großbritannien und fühle mich hier zuhause, aber manchmal vermisse ich dennoch mein Geburtsland. Schließlich leben dort alle meine Verwandten, unter anderem mein Vater, den ich nie kennengelernt habe. Noel, seine Zwillingsschwester Philine und den Rest der Familie sehe ich nur während der Schulferien. Als ich seine Antwort lese, die mich wenige Sekunden später erreicht, bin ich allerdings froh, dass er im Augenblick nicht persönlich anwesend ist.
Noel (14:46 Uhr): Nachhilfe? Hahaha du Dummkopf :'D
Ich schnaube und schicke ihm eine Handvoll Mittelfinger zurück. Noel steht es eigentlich nicht zu, sich über mich lustig zu machen. Seitdem er seinen Abschluss in den Sand gesetzt hat, jobbt er gelegentlich als DJ und tingelt durch die Clubs von Montrouge, unserem Heimatort. Nebenbei reißt er reihenweise Mädchen auf und scheint keinerlei Gedanken an seine Zukunft zu verschwenden. Sein sorgloser Lebensstil sorgt oft für Spannungen zwischen ihm und Tante Sylvie, der Schwester meiner Mutter.
Noel (14:48 Uhr): Hey, war doch nur Spaß. Ich find's gut, dass du das machst. Hauptsache, du endest nicht so wie ich :D
Widerwillig muss ich grinsen. Meinem Cousin kann ich nie lange böse sein, obwohl er Derjenige ist, der mich am meisten auf die Palme bringt. Trotzdem ist er am Ende des Tages neben Theodore mein bester Freund und ich freue mich schon darauf, wenn wir uns in den nächsten Ferien wiedersehen. Hoffentlich hat er bis dahin niemanden geschwängert oder so. Das würde mächtig Ärger geben, schätze ich.
An der nächsten Haltestelle steigt ein junger Mann mit einem Baby ein. Das kleine Bündel sitzt in einem Tragetuch und schlummert friedlich an der Brust seines Vaters. Noch kann ich mit Kindern nicht viel anfangen, aber diesen Anblick finde sogar ich süß. Gleichzeitig spüre ich aber auch eine gewisse Traurigkeit, die sich in mir breitmacht. Um mich abzulenken, hole ich meine Kopfhörer hervor und drehe die Musik so laut, dass ich ansonsten keinerlei Geräusche mehr wahrnehme.
Inzwischen haben wir etwa die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht. Einer Nachricht von Theodore entnehme ich, dass ich noch nicht zu spät bin. Unser Superhirn Grace lässt anscheinend ebenfalls auf sich warten. Interessant, denke ich spöttisch. Die Kleine ist wohl doch nicht so fehlerfrei, wie sie es gerne wäre. Wenn das Mr. Johnson wüsste.
Mitten im Song wird die Musik plötzlich unterbrochen. Überrascht stelle ich fest, dass Maman versucht, mich anzurufen. Ich zögere, weil ich es nach Möglichkeit vermeide, in der Öffentlichkeit zu telefonieren. Wenn ich Englisch spreche, fühle ich mich belauscht. Wenn ich mich auf Französisch unterhalte, bekomme ich die feindseligen Blicke derer zu spüren, die ein Problem mit Ausländern haben.
Letztendlich nehme ich den Anruf an, weil mir eine innere Stimme zuflüstert, dass es etwas Dringendes sein könnte. Vielleicht ist etwas mit Mrs. Chambers. „Maman?", frage ich gedämpft und versuche, die Menschen um mich herum auszublenden.
„Coucou, Adrien", sagt meine Mutter gedehnt. „Warum hat das so lange gedauert?" Ihr vorwurfsvoller Unterton ist nicht zu überhören.
„Hab das Klingeln nicht gehört", flunkere ich und hoffe einfach, dass sie meine kleine Notlüge nicht durchschaut. „Was ist denn?"
Maman hüstelt leise. „Eigentlich wollte ich dich nur fragen, wann du heute nach Hause kommst. Ich muss nach der Arbeit für uns und für Mrs. Chambers einkaufen gehen. Ich hätte gerne, dass du mitkommst, um mir beim Tragen zu helfen. Also, wie sieht's aus?"
„Weiß ich noch nicht", antworte ich achselzuckend. „Ich bin gleich erst mal bei Theo und dann haben wir Nachhilfe. Keine Ahnung, wie lang das dauert."
„Nachhilfe?", fragt sie perplex und wird prompt etwas lauter. „Warum weiß ich davon nichts? Muss ich dafür irgendwas bezahlen?"
Ich seufze unhörbar. „Calme-toi, Maman. Ich weiß es selbst erst seit gestern. Heute ist die erste Stunde und nein, du musst gar nichts bezahlen. Alles kostenlos. Kein Grund zur Aufregung."
Ein missbilligendes Schnaufen dringt durch die Leitung. „Na schön", erwidert sie knapp. „Dann schreib mir, sobald du fertig bist. Soll ich dich später abholen?"
Das fehlt mir gerade noch. „Nicht nötig", antworte ich entschieden. „Ich finde alleine nach Hause. Mach's gut, Maman, ich melde mich später. Salut."
Meine Mutter räuspert sich. „Salut, Adrien. Mach keine Dummheiten." Ein leises Knacken verrät mir, dass sie unser Telefonat beendet hat.
Na, wie findet ihr Adrien bis jetzt? Sympathisch oder eher nicht? :D
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3 sind 2 zu viel
TeenfikceGrace ist ehrgeizig, diszipliniert und eine Musterschülerin. Ihr Ziel? Jahrgangsbeste zu werden und den Landeswettbewerb für Mathematik zu gewinnen. Alles, was sie in irgendeiner Form davon ablenkt, ist tabu. Dementsprechend ist sie nicht begeistert...