Der Spiegel im Jungenklo hat einen Sprung. Seit Ewigkeiten, aber bisher wurde er nicht ausgetauscht. Mit rotem Edding hat außerdem jemand einen Penis darauf gemalt. Kein Lösungsmittel der Welt wird ihn dort wieder wegbekommen. Die einzige Möglichkeit, den Penis loszuwerden, ist, den kaputten, beschmierten Spiegel durch einen neuen zu ersetzen. Mal sehen, ob das noch passieren wird, bevor ich mit der Schule fertig bin.
Normalerweise meide ich das Klo mit dem kaputten Spiegel, weil ich gut und gerne darauf verzichten kann, meine Augenringe aus nächster Nähe zu bestaunen. Heute nach dem Sportunterricht bin ich jedoch zielstrebig hierher gelaufen, weil ich wissen wollte, ob sich mein Wangenknochen inzwischen blau gefärbt hat.
Vorsichtig betaste ich meine lädierte, geschwollene Gesichtshälfte. Die Stelle, an der mich die Faust getroffen hat, pocht schmerzhaft und ist mehr rot als blau, aber ich schätze, das wird sich innerhalb der nächsten Stunden ändern. Vielleicht sollte ich mir etwas zum kühlen besorgen. Oder ein bisschen Make-up von den Mädels, um die Rötung zu überschminken. Langfristig betrachtet wäre die erste Option wahrscheinlich sinnvoller.
Ich verlasse das Jungenklo und suche die Cafeteria auf, um nachzusehen, ob ich ein paar Eiswürfel auftreiben kann. Zum Glück habe ich jetzt eine Freistunde, ich muss also nicht im Unterricht hocken und mir dumme Sprüche über mein verbeultes Gesicht gefallen lassen. Wenn selbst die Theken-Trulla in der Cafeteria bei meinem Anblick die Hand vor den Mund schlägt, will ich mir die Reaktionen meiner Mitschüler lieber nicht ausmalen.
Eiswürfel gibt es übrigens keine und ich wundere mich nicht einmal darüber. Dieser Saftladen hat schließlich noch nie etwas getaugt. Spaßeshalber erkundige ich mich nach den Thunfischbaguettes – dem einzig genießbaren Gericht, das man hier bestellen kann – und muss erfahren, dass sie ausverkauft sind. Klasse. Sollte es jemals eine Petition zur Schließung der Cafeteria geben, würde ich sie blind unterschreiben.
Entnervt halte ich inne und überlege, was ich mit meiner freien Zeit anfangen soll. Natürlich könnte ich Hausaufgaben machen oder lernen, aber ich habe eigentlich keine Lust, meine Freistunde damit zu verschwenden, den Streber raushängen zu lassen. Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, mir einfach ein ruhiges Plätzchen zu suchen, um eine Runde zu pennen, bleibt mein Blick an einem lockigen braunen Haarschopf hängen.
Das trifft sich ja gut. Zielstrebig gehe ich rüber zu Grace, die weiter hinten an einem der Tische sitzt und sich mit lateinischen Vokabeln abmüht. „Hey", sage ich und deute auf den freien Stuhl ihr gegenüber. „Darf ich?"
Sie schaut auf und runzelt misstrauisch die Stirn. „Von mir aus. Hast du dich geprügelt?" Ihre Stimme klingt fast ein bisschen ängstlich.
„Nicht direkt", antworte ich und setze mich hin. „Eigentlich wollte ich eine Schlägerei verhindern. Hat nicht so ganz geklappt." Leider. Aber im Gegensatz zu den anderen Beteiligten bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Grace wirkt immer noch ziemlich skeptisch. „Erzähl mir mehr", fordert sie und schiebt ihre Hausaufgaben beiseite. „Was ist passiert?" Muss sie ja mächtig interessieren, wenn sie dafür sogar ihren Schulkram links liegen lässt.
Ich zucke die Achseln. „Eigentlich nichts Besonderes. Sportunterricht halt." In den Stunden von Mr. Vince geht es immer etwas ruppiger zur Sache, doch heute ist die Situation ein Stück weit eskaliert. Wir sollten Fußball spielen und im Eifer des Gefechts ist Adrien mit einem Jungen aus dem gegnerischen Team aneinandergeraten.
Dieser Typ namens Kyle hat das Spiel etwas zu ernstgenommen und Adrien in einer Tour provoziert, unter anderem sind Begriffe gefallen wie „Krüppel" und „Benzema für Arme". Letzterer hat sich verständlicherweise gewehrt, bis die Emotionen irgendwann hochgekocht sind und sie sich an die Gurgel gegangen wären, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Der Schlag, der mein Jochbein getroffen hat, war eigentlich für Adrien bestimmt, aber ich stand dazwischen.
Danach ging die Rangelei noch weiter, bis Mr. Vince auf die glorreiche Idee gekommen ist, das Ganze zu beenden, indem er Kyle und Adrien kurzerhand nach Hause geschickt hat. Morgen dürfen sich die beiden wohl auf eine saftige Standpauke gefasst machen. Ich verstehe allerdings nicht, wieso Adrien bestraft wird, obwohl Kyle Derjenige ist, der angefangen hat. Lehrerlogik eben. Die muss man nicht begreifen.
Grace verzieht während meiner Schilderungen missbilligend das Gesicht. Offensichtlich hat sie kein Verständnis dafür, dass die Lage etwas außer Kontrolle geraten ist. „Dann kann Adrien ja froh sein, dass du dabei warst", meint sie und es ist nicht zu überhören, wie wenig sie von ihm hält.
„Ja, bestimmt hat er sich gefreut, dass mir an seiner Stelle die Fresse poliert wurde", entgegne ich trocken und versuche zu grinsen, lasse es jedoch sein, weil meine rechte Gesichtshälfte zu sehr schmerzt. „Aber vergessen wir das. Deswegen bin ich nicht hier."
„Sondern?" Ihr Tonfall ist etwas schroff und sie schürzt argwöhnisch die Lippen. Das hindert mich allerdings nicht daran, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
„Ich wollte mich nochmal persönlich bei dir entschuldigen. Das war gestern echt nicht in Ordnung von mir. Vor allem, weil du gar nichts dafür konntest. Also, würdest du mir eventuell nochmal verzeihen?" Mir entgeht nicht, dass bei meinem letzten Satz ihre Mundwinkel zucken.
Grace lässt sich Zeit mit ihrer Antwort. „Na schön", sagt sie schließlich und macht eine kurze Pause. „Ich verzeihe dir. Aber nur, wenn du mir einen Kaffee ausgibst." Sie grinst, während ich sie entsetzt anstarre. Das meint sie nicht ernst, oder?
„Hier?", frage ich ungläubig, weil man das widerliche braune Zeug, das in diesem Laden ausgeschenkt wird, kaum als Kaffee bezeichnen kann. Eher als Zumutung. „Du willst diese Plörre doch nicht wirklich trinken, oder?
Lachend wirft sie den Kopf in den Nacken. „Meinetwegen können wir auch in irgendein Café gehen. Hauptsache, du bezahlst. Ein bisschen Entschädigung muss schon sein."
Da kann ich ihr nicht widersprechen. „Na dann", sage ich und stehe im selben Moment auf. „Lass uns gehen. Wenn wir noch länger warten, ist unsere Freistunde vorbei."
Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Kapitel & noch einen schönen Sonntagabend <3
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3 sind 2 zu viel
Подростковая литератураGrace ist ehrgeizig, diszipliniert und eine Musterschülerin. Ihr Ziel? Jahrgangsbeste zu werden und den Landeswettbewerb für Mathematik zu gewinnen. Alles, was sie in irgendeiner Form davon ablenkt, ist tabu. Dementsprechend ist sie nicht begeistert...