Abschiede sind immer schmerzhaft. Egal, ob sie für immer sind oder nur auf Zeit. Inzwischen habe ich mich schweren Herzens an den Gedanken gewöhnt, dass ich Mrs. Chambers wohl nie wiedersehen werde. Das alleine war schwer genug. Nun muss ich mich auch noch von jemandem verabschieden, den ich zwar bald in der Heimat besuchen, bis dahin aber extrem vermissen werde.
Wenn's nach mir ginge, könnte Noel ruhig für immer bei uns bleiben. Als DJ kann er hier schließlich auch arbeiten. Gleichzeitig verstehe ich natürlich, warum er zurück nach Hause möchte. An seiner Stelle hätte ich auch keinen Bock, ewig in unserem Wohnzimmer auf der Couch zu pennen. Außerdem hat er in Montrouge eine Freundin, die auf ihn wartet. Genau wie seine Familie.
Selbstverständlich begleiten Maman und ich ihn zum Bahnhof. Es ist ein verregneter Nachmittag, aber wenigstens nicht mehr so eisig wie in den vergangen Wochen und Monaten. Wir sprechen nicht viel, die Stimmung ist gedrückt, denn keiner von uns will sich verabschieden. Ich am allerwenigsten, aber das behalte ich lieber für mich, um es den anderen nicht noch schwerer zu machen.
Am Bahnhof herrscht ein reger Betrieb. Hunderte Menschen treiben sich hier herum, ob am Ticketschalter oder in den unzähligen Geschäften, die mit aufwändig dekorierten Schaufenstern versuchen, Kunden anzulocken. Vor den Eingängen hocken vereinzelt Obdachlose, die in Decken oder Lumpen gehüllt Passanten um ein paar Münzen bitten. Ausgerechnet heute habe ich natürlich kein Geld dabei.
Je näher wir den Gleisen kommen, desto langsamer werden wir. Vor allem Noel schaut sich immer wieder um und scheint gar nicht weitergehen zu wollen. Statt Vorfreude auf Zuhause erkenne ich so etwas wie Abschiedsschmerz in seinem Blick. Scheinbar hat ihm die Zeit hier doch ganz gut gefallen, auch wenn er sich immer wieder scherzhaft über das schlechte englische Wetter und die Überkorrektheit der Menschen ausgelassen hat.
„Du willst nicht weg, oder?", frage ich ihn leise, sodass Maman uns nicht hören kann. Sie läuft ein paar Meter hinter uns und trägt eine Sonnenbrille, um ihre ungeschminkten Augen zu verstecken.
Traurig schüttelt Noel den Kopf. „Nein", antwortet er gedämpft. „Aber ich muss. Isabelle wartet auf mich." Seine Familie oder gar seine Mutter erwähnt er mit keinem Wort. Ich glaube, er ist immer noch sauer auf sie, obwohl Maman ihr längst am Telefon den Kopf gewaschen hat. Wenn das nicht den gewünschten Erfolg bringt, weiß ich auch nicht mehr weiter.
Inzwischen haben wir trotz unserer Trödelei den Bahnsteig erreicht. Auf einer der großen Anzeigetafeln wird bereits der Intercity von Bristol nach Folkestone gelistet. Abfahrt in zehn Minuten, lese ich dort und im selben Moment rollt der Zug in den Bahnhof ein. Noel ist wirklich nicht zu beneiden. Ihm steht eine lange Reise bevor, denn von Folkestone geht es durch den Eurotunnel nach Calais und von dort aus weiter nach Montrouge. Unter sieben Stunden geht da gar nichts.
Der Zug öffnet seine Türen und die ersten Leute steigen ein. Allzu viele sind es nicht. Noel zögert noch und nimmt sich Zeit, um uns auf Wiedersehen zu sagen. Ihm fällt der Abschied sichtlich schwer, genau wie meiner Mutter, die ihren Neffen gar nicht mehr loslassen will und mit den Tränen kämpft. Seit Mrs. Chambers' Tod ist sie näher am Wasser gebaut als sonst.
„Prends soin de toi", sagt sie irgendwann mit erstickter Stimme und gibt ihn frei, um ihre Sonnenbrille abzunehmen und sich mit einem Taschentuch die Augen abzutupfen.
Noel nickt, ehe er sich mir zuwendet und mich in eine knochenbrecherische Umarmung zieht. „A bientôt, mon vieux", sagt er, während ich kaum noch Luft bekomme. Er senkt die Stimme, bevor er weiterspricht. „Versprich mir, dass du nie wieder alleine auf diese Brücke gehst."
„Versprochen", antworte ich und merke plötzlich, dass meine Augen feucht werden. Ich schaffe es jedoch, mich zusammenzureißen. „Tu vas me manquer, Noel. Rentre bien, alors." Eigentlich würde ich ihm gerne noch sagen, dass er keine Dummheiten machen soll, aber ich glaube, ich bin momentan nicht in der Position, um solche Sprüche rauszuhauen.
„Du wirst mir auch fehlen." Mein Cousin lockert seinen Griff und ich kann wieder richtig atmen. „Lass dich gefälligst bald drüben blicken, sonst komme ich zurück und hole dich. Mit Ansage!" Diesmal meint er es ernst. Ich sehe es ihm an.
„Nicht nötig", winke ich ab, obwohl ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn er uns bald wieder besuchen würde. „Ich komme nach, sobald ich kann. Je le jure sur mes couilles." Zur Untermalung meiner Worte hebe ich die Hand zum Schwur.
„Adrien!", zischt Maman empört, während Noel breit grinst. Ich zucke ungerührt die Achseln. Erstens sprechen die meisten Menschen hier kein Französisch und zweitens hört außer uns sowieso keiner zu.
Eine blecherne Durchsage hallt durch den Bahnhof. „Ladies and Gentlemen, der Intercity von Bristol nach Folkestone fährt in wenigen Minuten von Gleis 9 ab. Alle Passagiere möchten sich bitte in Kürze dort einfinden." Nicht alle möchten das, glaube ich.
Noel seufzt und wirft uns einen letzten, wehmütigen Blick zu. „Macht's gut, ihr beiden", sagt er und winkt zum Abschied. „Je vous aime. Merci pour tout." Kurz bevor die Türen geschlossen werden, huscht er als Letzter in den Zug.
Ich spüre einen dicken Kloß im Hals, während ich es Maman gleichtue und dem ausfahrenden Zug hinterherwinke. Jetzt ist er weg, denke ich und blinzle, damit ich nicht doch anfange zu heulen. Manchmal verfluche ich die Tatsache, dass wir in verschiedenen Ländern leben. Würden wir beide nah beieinander wohnen, wäre alles so viel einfacher. Vielleicht ändert sich das irgendwann. Hoffentlich.
Maman möchte nicht länger als nötig am Bahnhof bleiben, was ich gut verstehen kann. Mir geht's nämlich nicht anders. Mit hängenden Schultern folge ich ihr nach draußen. Aus den dicken, nassen Tropfen ist mittlerweile ein feiner Nieselregen geworden, der jedoch nicht weniger unangenehm ist. Ich ziehe mir meine Mütze tiefer in die Stirn und versuche, möglichst alle Locken drunter zu stopfen, damit sie sich bloß nicht noch mehr kräuseln.
„Adrien", sagt Maman plötzlich und bleibt stehen. „Warte bitte einen Moment. Ich möchte etwas mit dir besprechen." Ihre Stimme klingt nun nicht mehr verweint, sondern fest und vor allem entschlossen.
„Jetzt?", frage ich widerstrebend, weil ich mir echt etwas Schöneres vorstellen könnte, als hier im Regen zu stehen und ernste Gespräche zu führen. „Können wir nicht erst nach Hause fahren?"
„Nein." Sie holt tief Luft und sieht mir direkt in die Augen. „Raoul Bellegarde." Aus ihrem Mund klingt es wie ein zusammenhängendes Wort.
Verständnislos runzle ich die Stirn. „Was? Wer soll das sein? Dein Neuer?" Falls es so ist, hoffe ich, dass sie diesmal eine bessere Wahl getroffen hat. Ihr letzter Typ war nämlich eine richtige Flasche.
Seufzend schüttelt Maman den Kopf. „Nein, Raoul ist nicht mein Neuer, sondern mein Alter. Dein Vater, Adrien. Er lebt in Toulouse und arbeitet für Airbus. Als Projektmanager, glaube ich. Eine aktuelle Adresse oder Telefonnummer habe ich leider nicht."
Ungläubig starre ich sie an. Ich kann nicht fassen, dass sie diese Informationen ohne jegliche Vorwarnung mit mir teilt, während wir in irgendeiner blöden Seitenstraße rumstehen und vom anhaltenden Regen durchnässt werden. Einfach so, nachdem sie sich mein Leben lang geweigert hat, über meinen Vater zu sprechen, dem sie es offensichtlich nie verziehen hat, dass er kurz nach meiner Geburt abgehauen ist. Warum, weiß ich bis heute nicht.
Es dauert einen Moment, bis ich meine Sprache wiederfinde. „Wieso erzählst du mir das? Letztens hast du doch noch gesagt ..." Ich breche ab, denn beinahe hätte ich ihr verraten, dass ich sie und Noel neulich nachts belauscht habe. Das muss sie ja nicht unbedingt erfahren.
Maman zuckt die Achseln und lächelt milde. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du mittlerweile alt genug bist, um es zu erfahren." Mehr sagt sie nicht, aber das ist auch nicht nötig.
Ich weiß genauso gut wie sie, dass ihr sogenanntes Vögelchen gerade im Zug sitzt und in Richtung Frankreich fährt. Am liebsten würde ich Noel sofort anrufen, um mich bei ihm zu bedanken. Seinetwegen habe ich nun endlich Antworten auf jene Fragen, die ich mir stelle, seit ich denken kann. Raoul Bellegarde. Mein Vater. Nach siebzehn Jahren weiß ich endlich, wo er sich aufhält und für wen er arbeitet. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich.
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3 sind 2 zu viel
Teen FictionGrace ist ehrgeizig, diszipliniert und eine Musterschülerin. Ihr Ziel? Jahrgangsbeste zu werden und den Landeswettbewerb für Mathematik zu gewinnen. Alles, was sie in irgendeiner Form davon ablenkt, ist tabu. Dementsprechend ist sie nicht begeistert...