Ein Weg aus der Dunkelheit

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Francis, der nicht mit einem Angriff gerechnet zu haben scheint, stolpert an die Wand, fängt sich jedoch gleich wieder und prescht vor. Er packt Abelyn an den Haaren und zieht so heftig daran, dass Abelyn schmerzerfüllt aufschreit.

Jetzt steht er mit dem Rücken zu mir.
Ohne nachzudenken, stürze ich mich auf ihn. Ich lande einen harten Schlag gegen seinen Rücken und er zischt wütend. Doch dann ist die Wache da und Hände schließen sich um meine Brust und ziehen mich von Francis weg. Ich schlage um mich, treffe das Gesicht der Wache mit dem Ellenbogen. Die Wache, ein muskulöser Mann, stößt einen Fluch aus, lässt aber nicht locker, er schlägt mir in den Bauch und ich keuche schmerzerfüllt. Dann ist der Raum plötzlich voll mit Wachen. Ich erhasche einen Blick auf Abelyn. Sie liegt auf dem Boden und bewegt sich nicht. Doch ich sehe, wie sich ihre Brust hebt und senkt.

Francis steht über ihr wie ein düsterer Gott, die dunkle Haut glänzend im unnatürlichen Licht der Lampen.

Er würdigt Abelyn keines Blickes, als er auf die Uhr an seinem Handgelenk sieht und etwas zu der Wache sagt, die ihm am nächsten ist.

Zwei der Wachen legen Abelyn auf eine Trage und tragen sie aus dem Zimmer. Ich erlebe das ganze in einer Art Trance, als wäre ich außerhalb meines Körpers.

Als ich schließlich in den anderen Raum blicke, ist der Stuhl, auf dem der kleine Junge gesessen hat leer.

Ich werde von zwei Wachen zurück in meine Zelle gebracht. Francis ist kurz nachdem sie Abelyn weggebracht haben selbst verschwunden. Doch ich habe den Ausdruck in seinem Gesicht gesehen. Er versprach Leid und Schmerzen, als er aus dem Raum gestürmt ist. Vielleicht um Blakely oder Ashton davon zu berichten, vielleicht um Abelyn zu folgen. Ich weiß es nicht.

Den restlichen Tag verbringe ich in meiner Zelle, wo mich meine Gedanken beinahe wahnsinnig machen.

Sie sind wie ein dichter Nebel, der sich in den Ecken und Ritzen des Zimmers sammelt und sich dann langsam ausbreitet.

Sie haben Abelyn. Die Götter wissen, was sie mit ihr anstellen. Falleen ist ein verdammtes Miststück und Blakely vollkommen verrückt. Werden sie dem kleinen Jungen wehtun? Was ist, wenn ich hier nie wieder herauskomme? Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und gebe mir größte Mühe, etwas, dass sich anfühlt wie der Beginn einer Panikattacke in den Griff zu bekommen. Meine Hände zittern wie Espenlaub, als ich sie von meinem Gesicht nehme, als ich sie an meinen pochenden Kopf halte, fühle ich kalten Schweiß auf meiner Stirn.

Reiß dich gefälligst zusammen, Avery, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, die der meiner Mutter beunruhigend ähnlich ist. Aber ich kann bereits spüren, wie der Nebel dichter wird...und er kommt näher.

Ich krümme mich auf der Pritsche zu einem Knäul zusammen und kneife die Augen zu, konzentriere mich auf meine Atmung. Aber das klappt gerade einmal einige Minuten. Dann sind die Gedanken zurück.

Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Das weiße Zimmer flackert als meine Sicht immer wieder schwarz wird. Irgendwo in einer Ecke meines Bewusstseins weiß ich, dass ich etwas essen und trinken sollte. Aber mein Körper ist so schwer und die harte Matratze ist mit einem Mal gar nicht mehr so hart, der Gedankennebel plötzlich gar nicht mehr so angsteinflößend. Kurz darauf fallen meine Augen zu und ich gleite in einen schweren, dunklen Schlaf.

Eine Hand an meiner Schulter lässt mich aufschrecken. Meine Augen sind verklebt und mein Mund ist so trocken, dass ich beginne zu husten. "Psst", ein eindringliches Zischen dringt an mein Ohr und ich zucke zusammen. Als ich mich hektisch umsehe, erblicke ich zu meiner Verwunderung Venka, die über mir aufragt und mich betrachtet.

"Beeil dich, wir haben nicht viel Zeit", flüstert sie und entfernt sich bereits wieder. Verwirrt reibe ich mir über die Augen und mache den Mund auf um zu protestieren, doch Venka dreht sich um und sagt ruhig: "Francis hatte kein Recht dazu, zu tun, was er getan hat. Am besten bist du weg, bevor er sich wieder daran erinnert, dass es dich gibt."

Mit offenem Mund starre ich sie an. "Ich- was? Wovon redest du?" Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Watte gefüllt und ihre Worte dringen nur langsam zu mir, als würden sie sich einen Weg durch zähen Treibsand in mein Bewusstsein erkämpfen.

"Steh auf. Ich werde dich hier herausbringen."

Das genügt, um mich auf die Beine zu bringen. Venka hat bereits die Tür geöffnet und späht vorsichtig in beide Richtungen, bevor sie mir bedeutet ihr zu folgen.

Sie biegt nach links. Ich zögere.
Was ist, wenn sie mich verrät? Vielleicht bringt sie mich geradewegs zu Francis oder Ashton.

Aber die Alternative wäre zurück in die Zelle zu gehen. Sie bietet mir gerade einen Weg aus der Dunkelheit, selbst wenn sie mich anlügt, ist es immer noch besser als hier zu bleiben. Venka hat bereits den halben Gang durchquert. Ich gebe mir einen Ruck und beschließe ihr zu folgen.

Wir rennen förmlich die Gänge entlang. Dann hält Venka so abrupt inne, dass ich beinahe gegen sie stoße. Sie öffnet eine Tür, stößt mich hinein und folgt mir dann zwei Sekunden später in den Raum.

Dann greift sie nach zwei Kleidersäcken, die an einem Ständer an der Wand hängen und wirft mir einen zu. Als ich einen Moment zu lange zögere, schnaubt sie und öffnet ihren eigenen Sack. "Willst du, dass sie dich sofort erkennen?"

Ich blicke an mir herunter. Ich trage tatsächlich auffällige Kleidung. Also seufze ich nur und öffne meinen Kleidersack.

Zwei Minuten später betreten wir, ganz in schwarz gekleidet, durch eine versteckte Falltür ein Tunnelsystem.

Venka hat sich die zwei Beutel über die Schulter geworfen und verschließt jetzt sorgfältig die Falltür von innen.

"Wieso hilfst du mir?", mit vermeintlichen Freundinnen, die mir vermeintliche Fluchtwege zeigen, habe ich keine sonderlich guten Erfahrungen gemacht.

Sie überprüft kurz ob die Tür auch wirklich abgeschlossen ist und sieht mir dann direkt in die Augen. "Weil die Rebellen schon lange nicht mehr das sind, was sie einmal waren."

Mit diesen Worten tritt sie von der Tür weg, wendet sich in die entgegengesetzte Richtung und verkündet: "Und jetzt komm, ich bringe dich zu dem Maulwurf, er wird dich dann sicher in das Schloss zurückbringen."

𝐭𝐡𝐞 𝐚𝐬𝐡𝐞𝐬 𝐲𝐨𝐮 𝐥𝐞𝐟𝐭 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt