Entsetzen und Bestürzung

152 8 1
                                    

Die Regale verweigern es mir, den ganzen Raum zu erblicken und so kann ich immer nur von einem Regal zum nächsten gehen, um zu sehen was dahinter liegt.

Doch dann, nach etwa zwei Minuten, gelange ich an das Ende eines Regals und suche vergeblich nach dem Anfang eines neuen. Eine große, kreisrunde Fläche erstreckt sich vor mir. Das ohnehin schon düstere Licht der Deckenlampen scheint nicht bis zu diesem Ort zu gelangen.

Ich erkenne die dunklen, verschwommenen Umrisse eines riesigen Sekretärs, vermutlich aus Walnussholz, jedoch ist das in der allumfassenden Dunkelheit schwer zu sagen.

Zu beiden Seiten des Tisches führt ein Weg in die jeweils entgegengesetzte Richtung, wenn ich einem der beiden folgen würde, könnte dieser mich vielleicht an ein Fenster oder zumindest eine Wand führen. Von da aus könnte ich-

Ein leises Räuspern lässt mich abrupt innehalten. Eine Weile ist mein donnernder Herzschlag alles was ich höre.
Hier ist jemand.
Ein Schauer läuft mir das Rückgrat hinunter und ich lasse den Blick nach und nach über die Bücherregale gleiten. Bevor ich auch nur einen Schritt machen kann, wird ein Licht zu meiner rechten angeschaltet.

Ich fahre herum und die plötzliche Helligkeit bringt mich dazu, die Augen zusammenzukneifen. In dem grellen Licht kann ich zuerst nur Schemen erkennen. Offenbar ist der Schein der Lampe direkt auf mich gerichtet. Ich blinzle hektisch und hebe die Hand vor die Augen, nicht um sie abzudecken, sondern um etwas von dem Licht aus meinem Sichtfeld verschwinden zu lassen.

Einen kurzen Augenblick ist es totenstill, dann ertönt wie aus dem Nichts eine Stimme.

"Avery, was für eine ganz und gar erfreuliche Überraschung."

Die Stimme rüttelt an irgendeiner Erinnerung, doch sie entgleitet mir, sobald ich die Hand danach ausstrecke.

Dann wird hinter mir ein zweites Licht angeschaltet. Ich drehe mich um, in Erwartung jemanden dort stehen zu sehen. Doch da ist niemand.

"Mein Mann wollte es mir tatsächlich ausreden, dich hierher zu holen. Das Mädchen hat keine Chance bei diesem Wettbewerb, hat er gesagt. Sie ist zu leicht in Rage zu bringen, hat er gesagt. Ihre Eltern sind ein Problem, hat er gesagt."

"Zu deinem Glück, beuge ich mich seiner Meinung nur in der Öffentlichkeit."

Die Stimme ist jetzt hinter mir, näher als vorhin. Und bevor ich es schaffe. der Stimme ein Gesicht zuzuordnen, erscheint die Person auch schon im Rand meines Blickfelds.

Die schwarzen Haare glänzen im Licht der Lampen, das uns nun von beiden Seiten des Raumes entgegenstrahlt.

Das erste, was mir auffällt, ist ihre aufrechte Haltung, nicht gebeugt und weit entfernt von der Unterwürfigkeit, die sie bei unserem ersten Treffen an den Tag gelegt hat.
Balkely Connery betrachtet mich abschätzend. "Vielleicht hätte ich auf ihn hören sollen."

"Wieso haben Sie es dann nicht?" Meine Stimme ist fest und unerschrocken, aber der Schock breitet sich wellenartig in meinem ganzen Körper aus.

"Weil du mir tatsächlich helfen könntest, Avery."

"Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich bei dieser Rebellion -wie Sie es nennen- mitmache."

Eine Weile schweigt Blakely, dann erwidert sie: "Dieses Land ist krank, es hat Krebs. Er ist der von der schleichenden Sorte. Er infiziert das Land bereits seit Jahrzehnten, macht es schwach und schutzlos. Und du weißt das, ich habe es in deinen Augen gesehen. Falleen hat es in deinen Augen gesehen, als sie mich gebeten hat, dich zu verschonen."

Ich konzentriere mich darauf, bei Falleen Namen nicht zusammenzuzucken. Ihr Verrat sitzt mir immer noch in den Knochen. Auch wenn Falleen und ich uns nie so nahe standen wie Ellory und ich, habe ich sie dennoch als meine Freundin angesehen.

"Was wollt ihr von mir?" Blakely grinst und schüttelt den Kopf. "Du stellst die falschen Fragen, Avery. Die Frage ist nicht, was wir von dir wollen, sondern was wir dir geben können."

Als ich nichts darauf erwidere, fährt sie fort: "Macht, meine Liebe, ist die eine Eigenschaft, nach der jeder sucht, die jeder besitzen will. Doch man kann sie sich nicht einfach nehmen, sie muss einem gegeben werden. Das ist es, was wir dir geben können. Macht. Die Macht wirklich etwas zu verändern. Die Monarchie schwächt unser Land, indem sie reichen Leuten einen Nährboden für ihre fanatischen Machenschaften gibt."

Da ist ein Aufflackern in ihren Augen. Etwas Gefährliches, unter der Oberfläche.
Ich starre sie an.

"Du weißt, dass ich recht habe. Du weißt, dass sich nur auf diese Art eine tatsächliche Veränderung vollziehen kann. Eine Heilung kann nur geschehen, wenn man das kranke Gewebe herausschneidet. Das ist der einzige Weg."

Ich schüttle den Kopf, will ihre Worte aus meinem Gedächtnis löschen.

"Es gibt immer einen anderen Weg, man muss ihn nur finden. Wenn Sie tatsächlich derart ehrenhafte Absichten hätten, dann wüssten Sie das. Ich habe genug von diesem bellizistischen Gerede. Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, aber ich bin einzig und allein an einer Gewaltfreien Lösung interessiert. Eine, die nicht tausende von Leben kosten wird."

Mit diesen Worten drehe ich mich um und gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin. "Es ist wirklich eine Schande, dass Ihre Mutter Sie immer wie ein Drache behütet hat. Ich bin davon überzeugt, dass Sie und ich gute Freundinnen geworden wären, wenn man Sie nicht akribisch von all dem hier ferngehalten hätte."

Ich erstarre, auf einmal überschlagen sich meine Gedanken und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. "Du hast keine Ahnung, wie die reale Welt wirklich aussieht, keine Ahnung, was ich alles getan habe, um dich zu beschützen, Avery, verhalte dich also nicht so, als hättest du eine."

"Diese Leute sind kein Umgang für dich, Avery."
"Du hast kein Recht, uns zu verurteilen, dein Vater und ich wollen nur dein Bestes."
"Du redest mit Niemandem, hörst du?"

Es kostet mich meine sämtliche Kraft, mich nicht auf sie zu stürzen. Ich zwinge meine Beine sich zu bewegen, weg von hier. Weg von ihr.

Ich brauche drei Versuche, um den Ausgang zu finden, doch als ich dann endlich die Tür erblicke, öffne ich sie erleichtert.

Mein Kopf schwirrt und ich reibe mir verzweifelt über die Schläfen.
Reiß dich zusammen, Avery.
Als ich aus der Tür trete, spähe ich vorsichtig den Gang in beide Richtungen entlang. Niemand. Ich zögere keine weitere Sekunde, sondern mache auf dem Absatz kehrt und renne los.

Ich schaffe es gerade mal um eine Ecke, bevor ich über etwas stolpere und unsanft zu Boden falle.

"Da lässt man dich eine Sekunde allein und schon machst du Dummheiten." Als ich den Kopf hebe, blickt Ashton auf mich herab.

Er hat mir ein Bein gestellt.

𝐭𝐡𝐞 𝐚𝐬𝐡𝐞𝐬 𝐲𝐨𝐮 𝐥𝐞𝐟𝐭 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt