3 | Tai Lennox

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„Wir bitten alle Teilnehmenden, sich im Speisesaal einzufinden", ertönte die Lautsprecherdurchsage und Tai stand von ihrem Bett auf. Sie nahm an, dass der Palast einfach davon ausging, dass sie wussten, wo sich der Speisesaal befand, oder vielleicht war das auch die zweite Prüfung, aber in beiden Fällen hatte sie nicht vor, zu spät zu kommen. Ohne auf ihre beiden übriggebliebenen Zimmergenossinnen zu warten, verließ sie das Zimmer und machte sich auf die Suche.

Zu ihrem Glück hatte Tai den Palast und das Palastgelände bereits ein wenig erkundet, bevor sie zu ihrem Zimmer gegangen war, wobei sie nicht nur die verwirrte Ella, sondern auch einen Flur gefunden hatte, der wahrscheinlich zum Speisesaal geführt hatte. Und tatsächlich – sie war eine der ersten, die eintraf. Die Plätze waren nicht beschriftet, daher setzte sie sich einfach an einen Tisch, an dem noch niemand saß.

Der Speisesaal war groß, viel zu groß für die hundert Teilnehmer, für die die zehn langen Tische gedeckt waren – zehn Plätze pro Tisch. An der Decke hing ein Kronleuchter, in den Ecken standen künstliche Zimmerpflanzen. Sie waren das einzig Bunte in dem sonst weißen Raum, abgesehen von der zusammengewürfelten Kleidung der Teilnehmenden, die nun langsam eintrafen. Einige unterhielten sich miteinander, andere setzten sich alleine irgendwohin. Selbst Ella und Lizzy fanden den Speisesaal. Lizzy landete neben Tia, Ella auf der anderen Seite der Rothaarigen.

Einige Plätze blieben leer, nicht nur die von Zara und Ravyn, sondern elf weitere. Jemand hämmerte an der Tür, als das Essen bereits aufgetragen wurde, aber niemand kam mehr herein. Es war ein Test gewesen. Die Türen waren abgeschlossen.

Zum Abendessen gab es Fleisch, Kartoffeln und Brokkoli. Tai schnitt das Gemüse klein und bot das Fleisch dem braunhaarigen Mann etwa in ihrem Alter an, der ihr gegenübersaß. Er angelte es sich mit der Gabel und schlang es herunter. „Willst du mein Gemüse?", fragte er mit vollem Mund.

Tai lachte. „Das solltest du vielleicht essen."

„Aber dein Teller ist jetzt fast leer."

Tai linste auf ihren Teller hinunter. Er war wirklich nur noch zur Hälfte gefüllt. „Ich kriege sicher einen Nachschlag, wenn ich danach frage", sagte sie, auch wenn sie beide wussten, dass das nicht stimmte. Aber sie durfte keine Schwäche zeigen. Das Essen, das der Mann ihr anbot, konnte vergiftet sein. Es war unverantwortlich von ihm gewesen, ihr Steak anzunehmen.

Der Mann lachte und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Keavan", sagte er.

Zögerlich griff Tai über den Tisch nach ihr und schüttelte sie. Er hatte die wärmsten Hände, die sie je berührt hatte, übersäht mit kleinen Brandnarben, aber sie fragte ihn nicht danach. Sie hatten wohl alle ihre eigenen Gründe, hier zu sein.

„Tai", stellte sie sich vor und merkte erst jetzt, dass sie Keavans Hand bereits viel zu lange hielt. Schnell ließ sie sie los und widmete sich wieder ihrem Gemüse. Sie aß nicht viel davon; nach Ravyns Tod und Zaras Verbannung hatte sie nicht mehr wirklich Hunger. Aber im Gegensatz zu ihren beiden Zimmergenossinnen würde sich Tai das nicht anmerken lassen. Sie war nicht hier, weil die anderen Teilnehmenden sie so sehr interessierten oder weil sie wollte, dass sie überlebten. Ravyns Tod und Zaras Verbannung bedeuteten zwei Konkurrenten weniger.

Solange sich Tai darauf konzentrierte, würde sie vielleicht damit leben können, nur zugesehen zu haben und nicht versucht zu haben, Ravyn zu helfen.

Andererseits wäre sie wahrscheinlich ebenfalls hingerichtet worden, wenn sie Ravyn geholfen hätte – auch wenn sie selbst keine Fee war. Feen war es theoretisch gesehen nicht verboten, in Astraicia zu leben, aber sie wurden schlechter behandelt als Menschen, hatten wesentliche Nachteile bei der Bewerbung auf Jobs und oft suchte die Regierung geradezu nach einem Grund, sie hinter Gitter zu bringen oder hinzurichten. Und der König, ein Mensch, wollte auch keine von ihnen in seiner Leibgarde, weswegen Feen nicht am Wettbewerb teilnehmen durften. Tai war froh darüber. Gegen die unberechenbare Magie der Fabelwesen hätte sie keine Chance gehabt. Ungerecht war es trotzdem.

Ein Thron aus Eis und AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt