„Weißt du, was mit Tai passiert ist?", fragte Keavan nach dem Mittagessen. Sie saßen wieder in ihrem Zimmer, das sie sich mittlerweile nur noch zu zweit teilten.
„Nein. Ich nehme an, sie machen Backgroundchecks", sagte Ambrose. „War Tai nicht in einer Gang?"
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hat auf der Straße gelebt, vielleicht waren andere Leute dort."
„Ich finde ja, der Mörder sollte sich einfach stellen", sagte Ambrose mit einem Seitenblick zu Keavan. Auch wenn dieser behauptete, dass er es nicht gewesen war, hatte Ambrose genug von seinem Versteckspiel. Keavan mit seiner falschen Vergangenheit, seinem Sarkasmus, seinen Haaren, deren Ansatz er im Badezimmer heimlich nachfärbte. Wahrscheinlich log er ihn an. Wahrscheinlich war Keavan der Mörder und hatte Spaß daran, sie alle für sich lügen zu lassen.
„Finde ich auch." Keavan fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts darüber, dass er Spaß am Lügen hatte. Aber lügen war Keavans Beruf. Natürlich war er gut darin.
Aber Ambrose vertraute ihm nicht länger. Wenn das Einsperren im Raum wirklich ein Versuch des Palastes gewesen war, den Mörder zu finden, war es Keavans Schuld, dass sie alle fast gestorben waren. Dass Ella fast gestorben war. Zumindest wenn Keavan der Mörder war. Und Ambrose traute es ihm zu. Keavan war eine Aschefee, ein Assassine. Intelligent und manipulativ.
„Sonst sterben noch mehr Leute", sagte Ambrose. Wenn die Kameras nicht gewesen wären, hätte er Keavan am Hals gepackt, ihn gegen die Wand gepresst und ihn gezwungen, sich zu stellen. Aschefee hin oder her.
Andererseits, wenn Keavan ihn in Asche verwandelte und die Kameras ihn aufzeichneten, hatte der Palast einen Beweis, dass Keavan die Aschefee war. Und dann würden sie wahrscheinlich auch vermuten, dass er der Mörder war. Sie könnten sich die Befragungen und Investigationen sparen.
Aber Ambrose hatte immer noch eine Mission. Er konnte sein Leben nicht einfach riskieren, um Keavan zu töten.
„Zum Beispiel Leute, die nichts mit dem Mord zu tun haben", sagte Keavan. Ambrose verstand die Anspielung, aber sie änderte nichts an seiner Überzeugung, dass Keavan der Mörder war. Er war die Person, die den Mord am wahrscheinlichsten begangen hatte.
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
Keavan stand von seinem Bett auf und öffnete.
Ella stand davor. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, sah müde aus, noch zerbrechlicher als sonst. „Ich brauche Ablenkung", sagte sie. „Tai ist noch nicht zurück und ich frage mich die ganze Zeit, was mit ihr passiert ist. Zuerst stirbt Lexie, dann stirbt Lizzy, jetzt verschwindet Tai ... ich sollte aufhören, Freundschaften zu schließen."
Ambrose stand von seinem Bett auf. „Gehen wir nach draußen", sagte er. Es ging ihm nicht einmal darum, dass er von Keavan weg wollte, sondern, dass er mit Ella reden wollte. Obwohl sie sich heute Morgen erst verabschiedet hatten und zusammen Mittagessen gegessen hatten, hatte er das Gefühl, sie schon zu lange nicht mehr gesehen zu haben.
Er folgte ihr aus dem Zimmer, sie verließen den Palast und setzten sich unter die Trauerweide.
„Wer ist Lexie?", fragte er.
„Wie?"
„Du hast vorhin etwas von einer Lexie gesagt, die gestorben ist. War sie eine Freundin von dir?"
„Ich habe gesagt, du sollst mich ablenken." Ella presste die Lippen aufeinander.
„Tut mir leid. Ich dachte, vielleicht willst du darüber reden", sagte Ambrose.
Ella spielte mit einer Strähne ihrer kurzen Haare. „Es ist keine lange Geschichte. Wir waren befreundet, dann ist sie gestorben. Überdosis Drogen. Passiert im Modelbusiness."
„Bist du deswegen ausgestiegen? Wegen der Drogen? Hattest du Angst, dass dir auch so etwas passiert?", fragte Ambrose.
Ella zuckte mit den Schultern. „Vielleicht unterbewusst. Aber ich wollte vor allem meiner Familie helfen ... auch wenn ich nicht weiß, ob ich das immer noch will. Sie haben mich jahrelang ignoriert und als sie mich angerufen haben, damit ich ihnen helfen, habe ich gehofft, dass sie danach wieder mit mir reden. Aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch will, wenn ich dafür Menschen wie dich opfern muss."
„Menschen wie mich?" Ambrose wollte, dass es etwas bedeutete.
„Du, Tai, Keavan ... Meine Freunde halt."
„Warum hat deine Familie dich ignoriert?", fragte Ambrose, um das Thema zu wechseln, weil er nicht darüber nachdenken wollte, dass Ella ihn gerade als Freund bezeichnet hatte. Und noch weniger darüber, dass er gehofft hatte, sie würde etwas anderes sagen.
Er wusste nicht, worauf er gehofft hatte. Ein Liebesgeständnis? Sie kannten sich doch kaum. Und nur weil er ihr das Leben gerettet hatte, konnte er nicht so etwas von ihr erwarten. Sie war ihm nichts schuldig. Erst recht keine Romantik. Keine Gefühle.
„Das ist echt persönlich", sagte Ella. Ihre Stimme klang bitter. „Vielleicht sollten wir wieder hineingehen."
„Nein, nein. Tut mir leid. Ich lenke dich ab", sagte Ambrose. „Worüber willst du reden."
Ella schwieg kurz. „Wie ist es, mit Keavan ein Zimmer zu teilen?", fragte sie dann.
Ambrose lachte. Es war kein echtes Lachen, aber er hatte ihr versprochen, sie abzulenken, deswegen versuchte er zumindest, die Stimmung aufzulockern. „Das willst du gar nicht wissen. Ich bin froh, wenn er im Bad verschwindet, um sich den Haaransatz nachzufärben. Sonst will er die ganze Zeit mit mir reden und in letzter Zeit Theorien darüber aufstellen, wer der Mörder ist. Er regt sich die ganze Zeit darüber auf, dass jemand behauptet, eine Aschefee zu sein, obwohl er die Leute nicht in Asche verwandelt hat."
„Ich verstehe nicht, wie man so stolz auf seine Spezies sein kann", sagte Ella.
Ambrose zog die Augenbrauen hoch. „Weil er ein Magisches Wesen ist und alle Magischen Wesen Abschaum sind?"
„Nein! Nur weil ... egal. Ich halte ihn jedenfalls nicht für Abschaum. Und dich erst recht nicht." Sie hielt seinen Blick einen Moment zu lang fest.
Ambrose zog einen Mundwinkel hoch. „Ich halte dich auch nicht für Abschaum, Ella. Obwohl du ein Mensch bist."
„Menschen sind echt furchtbar", sagte sie. Sie klang beinahe, als würde sie es ernst meinen.
„Ja", erwiderte er vorsichtig.
„Ich habe Fabelwesen nie gemocht, aber seit ich euch kenne ... viele der Menschen, die ich kenne, sind gefährlicher als ihr."
„Na ja, ich glaube bei Keavan täuschst du dich. Das ist alles nur Fassade."
„Glaubst du auch, dass er der Mörder ist?"
„Ja! Danke!"
Ella lachte, wahrscheinlich wegen seiner Reaktion. Eigentlich war es nicht zum Lachen, aber Ambrose stimmte trotzdem mit ein. Es tat gut, zu lachen. Dieses Mal war es sogar echt.
Danach schwiegen sie kurz. Holten Luft.
„Danke", sagte Ella dann.
„Wofür?"
„Dass du versuchst, mich abzulenken."
„Funktioniert es?"
„Nicht wirklich. Ich denke noch immer darüber nach, was Tai passiert ist. Aber trotzdem danke."
Bei der Art, wie sie ihn ansah, ihr Blick verheddert mit seinem, fragte Ambrose sich, ob sie nicht doch mehr als Freunde sein konnten.
Er wusste nicht, warum er überhaupt darüber nachdachte. Vielleicht weil er beeindruckt von Ella war, seit sie ihn damals beim Schwertkampf besiegt hatte.
Aber das hier war kein Ort, um sich zu verlieben. Nirgends war ein Ort, um sich zu verlieben, zumindest nicht für ihn. Er war gefährlich. Er würde jede Person, in der er sich verliebte, in Gefahr bringen, schon nur, wenn er nachts neben ihr lag.
„Wir sollten wieder reingehen", sagte Ambrose, stand auf und ging zurück in Richtung Palast.
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Ein Thron aus Eis und Asche
FantasyEine Schönheitskönigin mit einem vernarbten Rücken. Ein Werwolf, der gegen die Krone rebelliert. Eine Straßenkämpferin, die ihre Freundin retten will. Ein Assassine, der Menschen zu Asche verwandeln kann. Sie alle treten im Bewerbungsverfahren für d...