Tai stocherte in ihrem Mittagessen herum. So unauffällig wie möglich versuchte sie, nach Keavan Ausschau zu halten, aber sie wusste nicht, ob er überhaupt noch im Wettbewerb war.
Sie selbst hatte gegen einen Mann gekämpft, aber es war ein Leichtes gewesen, ihn zu besiegen. Er war von Wächtern weggebracht worden, wahrscheinlich in einen Kerker.
Keavans Kampf hatte gleichzeitig wie ihrer stattgefunden, deswegen hatte sie ihm nicht zusehen können. Sie traute sich nicht, den Kopf zu drehen, um nach ihm zu suchen, deswegen musterte sie die Reihen von Leuten an den Tischen nur aus dem Augenwinkel. Als könnte jemand bemerken, dass er ihr ein wenig zu viel bedeutete.
Vielleicht hatte sie Glück und er war bereits aus dem Wettbewerb draußen. Dann musste sie ihn nicht selbst töten. Er wäre nicht die erste Person gewesen, aber die erste, die kein Unfall, kein Kollateralschaden war.
Was war schlimmer, jemanden versehentlich oder absichtlich zu töten? Tai wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie zu viele Autos brennen gesehen hatte, Menschen, die ihr Leben an die Wand gefahren hatten, manche von ihnen sprichwörtlich, aber nicht alle. Und sie hatte ihnen dabei geholfen. Jedem einzelnen von ihnen.
Wenn sie erst einmal Königin war, würde es schwierig sein, das vor dem Volk geheimzuhalten.
„Ich habe ihn nicht umgebracht!", rief in diesem Moment der Mann neben ihr.
Tai fuhr zu ihm herum. Er diskutierte mit einem anderen Mann und so ziemlich ihr ganzer Tisch sah die beiden an.
„Er war in deinem Zimmer", sagte der zweite Mann. „Wer sollte ihn sonst umgebracht haben?"
„Ambrose vielleicht?" Der erste Mann deutete auf den Mann, der neben ihm saß. „Er ist ziemlich aggressiv."
Ambrose zog die Augenbrauen zusammen. „Bitte was?"
„Ja, er ist wirklich ziemlich aggressiv, ich habe gegen ihn gekämpft", sagte Ella neben ihm.
„Du hast mich besiegt! Du bist sicher eine größere Gefahr als ich!", fuhr Ambrose sie an.
„Ach, jetzt plötzlich?"
„Du lässt dich von einem Mädchen besiegen, Ambrose?", fragte der erste Mann Ambrose und die Diskussion über den Toten schien vergessen.
Gelächter brach aus. Ella verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
„Ich habe auch gewonnen", sagte Tai kurzerhand. „Und ich würde gegen jeden von euch gewinnen."
Das Lachen der Männer am Tisch wurde nur noch lauter. „Dann beweis es!", rief einer von ihnen.
Tai kratzte unbeeindruckt die Sauce von ihrem Teller. „Um neun auf dem Vorplatz. Du wählst die Waffe."
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. „Keine Waffe. Nahkampf."
„Meinetwegen." Tai grinste. Er hatte soeben sein eigenes Grab geschaufelt.
Die Menge johlte. Der Mann namens Ambrose warf Tai einen Blick zu, den diese nicht ganz deuten konnte.
Keavan erspähte Tai erst beim nächsten Test wieder. Es war ein erneuter Fitnesstest, was ihre Leistung beim Nahkampf heute Abend wahrscheinlich ein wenig beeinträchtigen würde, aber zum Glück hatte sie für diesen Wettbewerb trainiert.
Sie war nicht die Beste in dieser Prüfung. Zwar hatte sie sich jahrelang auf der Straße behaupten müssen, aber die endlose Abfolge von Liegestützen, Rumpfbeugen und Runden um den Palast war beinahe zu viel für sie. Als sie keuchend auf dem Vorplatz zum Stehen kam, war ihr schwindlig und ihre Kehle wie ausgetrocknet.
„Brauchst du Hilfe?", fragte Keavan neben ihr. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen."
„Mir geht es besser denn je", erwiderte Tai trocken.
„Man sieht es", kommentierte er sarkastisch. „Aber du hast die Mindestanforderungen erfüllt, oder?"
„Ich habe die Mindestanforderungen mehr als nur erfüllt." Sie klang wütender, als sie beabsichtigt hatte. Vielleicht hätte sie Keavan zum Kampf auffordern sollen statt den Mann von ihrem Tisch beim Mittagessen. Und ihm dann den Hals umdrehen.
„Dann habe ich dich wohl unterschätzt."
„Jeder unterschätzt mich", knurrte sie. „Und manche von ihnen kostet es das Leben."
„Nur manche? Dann habe ich noch Überlebenschancen?"
„Ja", sagte sie bereits, aber nur wegen der Kameras. In Wahrheit plante sie bereits, wie sie ihn unbemerkt aus dem Weg räumen konnte. Weder Ambrose noch der andere Mann aus seinem Zimmer waren für den Mord heute Morgen verhaftet worden, also waren sie es entweder nicht gewesen oder der Mord war noch nicht aufgeklärt worden. Letzteres würde bedeuten, dass es möglich war, hier jemanden umzubringen, ohne dass es von den Kameras aufgezeichnet wurde.
„Wie viele Menschen haben dich unterschätzt und wie viele hat es das Leben gekostet?", fragte Keavan.
„Ach, du nimmst meine leeren Drohungen also wirklich ernst?" Es war ein Bluff und sie wussten es beide. Tai war zu weit gegangen, hatte sich verraten. Sie hoffte nur, dass wer immer sie überwachte es nicht bemerkte, sonst war sie geliefert. Zwar hatte die Regierung vor dem Wettbewerb sicher einen Backgroundcheck bei den Teilnehmenden durchführen lassen, aber Tai hatte ihren Namen geändert und falsche Internetprofile angelegt. Es war leicht gewesen. Während der Jahre auf der Straße hatte sie nirgends eine Spur hinterlassen und galt immer noch offiziell als verschollen. Wahrscheinlich hatten die meisten Menschen, die sie früher gekannt hatte, mittlerweile vergessen, dass sie überhaupt existierte.
Vielleicht war es besser, vergessen zu werden. Besser, als wenn sich die Leute daran erinnerten, was sie getan hatte. Dass sie aus der Schule geflogen war, weil sie mehrere Leute zusammengeschlagen hatte, die sich über sie lustig machten und ihr unterstellten, dass sie eine Fee war. Dass sie von zu Hause abgehauen war und auf der Straße gelebt hatte.
Deswegen hatte sie mit der Hilfe von ein paar ihrer Freunde alles gelöscht, was über sie im Internet zu finden gewesen war, selbst Artikel, in denen sie nur angedeutet wurde. Sie hatte ihren Namen geändert und wenn man Tai Lennox in eine Suchmaschine eintippte, fand man keine Morde, keine Drogen, keine Konflikte zwischen Gangs.
„Ich habe noch nie jemanden umgebracht", sagte sie an Keavan gerichtet und hoffte, dass der Palast keine Lügendetektoren hatte. „Aber glaub mir, du willst nicht die erste Person sein."
„Nein, ich würde es bevorzugen, mit dir auf ein Date zu gehen, als von dir umgebracht zu werden."
Tai hätte ihn am liebsten geschlagen. „Wie bitte?"
Keavan lachte. „Ich wollte nur deinen Gesichtsausdruck sehen. Wobei mich dein Entsetzen doch ein wenig verletzt."
„Mein Entsetzen wird bald nicht mehr das Einzige sein, was dich verletzt."
Die Gruppe löste sich auf und sie kehrten in den Palast zurück. Tai begann demonstrativ, mit Ella zu reden, die noch erschöpfter aussah als sie selbst, und entfernte sich von Keavan.
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Ein Thron aus Eis und Asche
FantasyEine Schönheitskönigin mit einem vernarbten Rücken. Ein Werwolf, der gegen die Krone rebelliert. Eine Straßenkämpferin, die ihre Freundin retten will. Ein Assassine, der Menschen zu Asche verwandeln kann. Sie alle treten im Bewerbungsverfahren für d...