Ich sollte Ambrose verraten.
Er war ein Werwolf.
Er war gefährlich.
Bei Keavan war es anders. Bei ihm wusste ich nicht, ob er die Aschefee war. Aber Ambrose hatte zugegeben, dass er ein Werwolf war. Wenn ich ihn auslieferte, würde es mir einen Platz in der Leibgarde verschaffen? Vielleicht, oder zumindest einen Vorteil im Wettbewerb. Und ich war hier, weil ich diesen Platz wollte. Um meine Familie zu retten.
Meine Familie, die mich nur deswegen zum ersten Mal seit Jahren angerufen hatte, um mir zu sagen, dass sie drauf und dran waren, ihr Haus zu verlieren.
Aber wenn ich Ambrose auslieferte, würde er wahrscheinlich sterben. Vielleicht würden sie ihn vorher noch foltern, um herauszufinden, was seine Motive waren. Wollte er wirklich Leibwächter werden? Für einen König, der Werwölfe wie Tiere behandelte? Oder war er genau wie ich hier, um den König zu töten? Dann könnten wir uns vielleicht sogar verbünden. Dann musste ich ihn nicht ausliefern.
Es sollte mir egal sein. Er sollte mir egal sein. In diesem Wettbewerb gab es keine Verbündeten, nicht einmal, wenn sie dasselbe Ziel verfolgten wie man selbst. Und ich wusste ja nicht einmal, ob Ambrose den König umbringen wollte. Vielleicht würde er wirklich Leibwächter werden. Und dann verbaute ich mir die Chance, meinen Plan in die Tat umzusetzen.
Meinen Plan. Als Ambrose und Keavan das Zimmer verlassen hatten und ich auf meinem Stockbett saß und vergeblich versuchte, mich auf den Brief zu konzentrieren, den ich an meine Familie schrieb, obwohl diese ihn nie erhalten würde, zweifelte ich zum ersten Mal an meinem Plan. Weil ich keine Worte fand, die ich meiner Familie sagen wollte, während mir bei Ambrose aus ganz anderen Gründen die Worte wegblieben.
Aber er war ein Fremder. Ich hatte nur ein paar Gespräche mit ihm geführt und es war egal, wie sehr er mich faszinierte. Er war nur ein Sprungbrett, um den König umzubringen.
„Bitte verrat Keavan nicht", sagte Tai. „Es ist alles nur ein Missverständnis. Er war ein Assassine, aber er ist nicht hier, um den König zu töten. Er ist auch nicht die Aschefee."
„Keavan ist mir egal", sagte ich matt. „Es geht mir um Ambrose. Wusstest du, dass er ein Werwolf ist?"
„Nein. Aber es überrascht mich nicht wirklich. Haben die nicht alle ein Aggressionsproblem?"
„Ich glaube, das ist nur ein Klischee." Ich starrte auf meinem Brief hinunter, auf dem außer einer Begrüßung keine Worte standen. Worte. Ich war noch nie gut mit Worten gewesen. Es hatte auch niemanden interessiert, was ich zu sagen hatte.
Außer Ambrose. Ambrose hatte mir zugehört und mich dabei angesehen, als wäre ich der interessanteste Mensch der Welt.
„Aber viel wichtigere Frage: Wo ist dieses Tattoo und woher weißt du davon?" Tai grinste.
„Auf seinem Rücken." Ich ignorierte ihre zweideutige Anspielung und die Annahme, die meine Antwort wahrscheinlich nach sich ziehen würde.
„Auf seinem Rücken!", rief Tai. „Du und Ambrose also. Kein Wunder, dass es dich so sehr nervt, dass du nicht wusstest, dass er ein Werwolf ist."
„Nein. Nicht ich und Ambrose. Er hat es mir nur gezeigt, als wir betrunken waren." Ich und Ambrose, das würde niemals passieren. Das war unmöglich.
Tai lachte laut los. „Jaja. Was habt ihr noch getan, als ihr betrunken wart?"
„Nichts!" Ich griff nach meinem Kissen und warf es nach ihr, aber ich verfehlte sie. „Viel wichtigere Frage: Woher weißt du so genau, dass Keavan nicht die Aschefee ist."
„Tja." Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das werden wir wohl nie erfahren."
Ich wusste, dass Tai lesbisch war. Sie hatte es mir vor einigen Tagen erzählt. Trotzdem fragte ich mich, woher sie es wusste. Verheimlichte Tai auch Dinge vor mir? Hatte sie sich mit Keavan verbündet, um ... ja, was eigentlich?
Aber darüber konnte ich jetzt gerade nicht nachdenken. Ich musste mich darauf konzentrieren, Ambrose auszuliefern. Und den Brief an meine Familie fertigzuschreiben, obwohl das Papier immer noch fast leer war.
„Aber im Ernst. Wir stecken alle unter einer Decke. Keavan und ich wollen einander helfen, diesen Wettbewerb zu gewinnen, und Ambrose und Keavan einander scheinbar auch. Und wir haben alle Geheimnisse. Also wenn du jemand von uns auslieferst, reißt du uns alle in den Abgrund", sagte Tai, nun wieder ernst.
Sie alle. Ambrose, Keavan und Tai. Die Leute, die während der letzten Tage so etwas wie Freunde für mich geworden waren, obwohl ich keine Freunde haben wollte. Wenn ich sie auslieferte, war ich wieder allein. Und für den Tod von drei Menschen verantwortlich, die ich tatsächlich gemocht hatte.
Ich wollte hart sein, unabhängig. Niemanden brauchen, mit dem ich reden konnte, der mich zum Lachen brachte.
Aber die Anzahl leerer Hotelzimmer, in denen man wohnen konnte, bevor man das Gefühl hatte, vor Einsamkeit zu sterben, war begrenzt.
„Und das mit dem Haus tut mir leid", sagte Tai. „Ich weiß, dass dein Haus gebrannt hat und du deswegen Brandnarben hast, aber ich habe meines nicht mit Absicht angezündet. Es war ein Unfall." Für einen kurzen Moment brach ihre Stimme.
„Ach, darüber habe ich gar nicht nachgedacht", sagte ich. Es war die Wahrheit. Schließlich hatte mein Haus nicht gebrannt. Das war nur eine Lüge, die ich der Presse erzählt hatte, um die Brandnarben auf meinem Rücken zu erklären.
Neben meiner Fähigkeit, Wasser zu kontrollieren, waren die Brandnarben das Einzige, was mich noch daran erinnerte, dass ich kein Mensch war. Und dass ich nie ein Mensch sein würde, egal, wie sehr ich es versuchte.
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Ein Thron aus Eis und Asche
FantasyEine Schönheitskönigin mit einem vernarbten Rücken. Ein Werwolf, der gegen die Krone rebelliert. Eine Straßenkämpferin, die ihre Freundin retten will. Ein Assassine, der Menschen zu Asche verwandeln kann. Sie alle treten im Bewerbungsverfahren für d...