20 | Tai Lennox

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Ohne Lizzy war das Zimmer leer.

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie einfach so gestorben ist", murmelte Tai, während sie die Kleidung ihrer Zimmergenossin zusammenlegte.

„Ich auch nicht." Ella zupfte an einem der Pflaster an ihrem Arm. Sie war beim Schwertkampf verwundet worden. Darüber, ob sie in der Krankenstation gewesen war, um sich verarzten zu lassen, hatte sie nichts gesagt, aber die Pflaster in ihrem Badezimmerschränkchen waren alle noch da.

„Meinst du, es ist etwas an ihren Aussagen dran?", fragte Tai.

„Dass die Intelligenztests die intelligenten Leute ausgesiebt haben? Keine Ahnung." Ellas Gesicht war ausdruckslos. „Warst du gut in der Schule?"

Tai lachte trocken auf. „Ich war ewig nicht mehr in der Schule."

Ella schlug die Beine übereinander und lehnte sich vor, wahrscheinlich auf der Suche nach Ablenkung. „Warum?"

„Ach, ich habe eine Weile auf der Straße gelebt. Keine große Sache." Tai zuckte mit den Schultern, um es herunterzuspielen. Sie räumte die Kleidung, die davor auf Lizzys Bett gelegen hatte, in den Schrank und strich die Bettdecke glatt, sodass es aussah, als hätte nie jemand in dem Bett geschlafen.

Dabei wussten sie und Ella beide, dass das nicht der Fall war.

„Warum hast du auf der Straße gelebt?", fragte Ella.

„Wir alle machen Fehler", sagte Tai nur. Auch wenn Ella ihre Freundin war, wollte sie ihr nichts geben, was sie gegen sie verwenden konnte. Das hier war immer noch ein Wettbewerb.

„Und wenn du rausfliegst ... lebst du dann wieder auf der Straße?"

„Wenn ich rausfliege, werde ich wahrscheinlich in den Kerker gesperrt."

„Aber wenn du nicht in den Kerker gesperrt würdest?"

„Das tut nichts zur Sache."

„Also ja."

„Wo würdest du denn leben, wenn du rausfliegst, Schönheitskönigin?", fragte Tai mit harter Stimme. Sie hatte nicht die Nerven für Ellas Fragen. Nicht jetzt. Nicht nach Lizzys Tod. Nicht wenn sie nicht wusste, ob sie es verdiente, noch hier zu sein. Was, wenn Lizzy Recht gehabt hatte? Wenn die intelligenten Menschen rausgeflogen waren?

„Ich weiß es nicht", sagte Ella und ihre Stimme brach gleichzeitig mit ihrer gefassten Fassade. „Das hier war meine letzte Chance, etwas zu bewirken. Falls ich es nicht schaffe ... kehre ich vielleicht zu meiner Familie zurück und lasse mich mit ihnen zusammen hinrichten."

„Hinrichten? Warum?"

„Eine Information gegen eine Information?"

Tai warf einen Blick zu den Kameras in den oberen Ecken des Zimmers. Wenn der Palast Backgroundchecks durchgeführt hatte, hatten sie wahrscheinlich ohnehin alles über ihre Vergangenheit herausgefunden. Und sie hatte eine Chance, mehr über Ella zu erfahren. Mehr Kontrolle zu bekommen. Sie musste diese nutzen. „Okay", sagte sie.

„Meine Familie wohnt auf Land, das ihnen nicht gehört", sagte Ella. „Und deswegen sollen sie hingerichtet werden. Ich habe gehofft, dass ich vielleicht mit dem König reden kann, wenn ich es schaffe, zu seiner Leibgarde zu gehören."

„Man wird doch nicht hingerichtet, wenn man auf Land wohnt, das einem nicht gehört", sagte Tai. „Und selbst wenn, warum können sie nicht umziehen?"

Ella geriet sichtlich kurz aus dem Konzept. „Es ist irgendeine Sonderregelung mit dem Gebiet dort. Und das Haus ist alles, was sie haben. Sie können es sich nicht leisten, umzuziehen."

„Und du kannst ihnen nicht helfen?"

„Ich verdiene als Model nicht genug. Erst recht nicht mit meinem Rücken."

„Oh. Stimmt." Die Geschichte über Ella Smiths Brandnarben, die davon stammten, dass ihr Haus fast abgebrannt war, war eine Zeit lang durch die Klatschpresse gegangen. Ihr gesamter Rücken war vernarbt und während sie wegen diesem Alleinstellungsmerkmal einige Jobs bekommen hatte, hatten sich die Gerüchte, dass sie ein Magisches Wesen war, hartnäckig gehalten und Ella hatte begonnen, fast nur noch für Kosmetik und Haarprodukte zu werben, weil sie dort ihren Körper nicht zeigen musste.

Die Geschichte von Ellas Brandnarben hatte Tai immer an das erinnert, was ihr selbst passiert war.

Was sie selbst getan hatte.

„Jetzt du", sagte Ella.

„Es gibt nicht viel über mich zu erzählen", sagte Tai. „Mir ist ein Unfall passiert. Meine kleine Schwester ist ums Leben gekommen. Ich bin von zu Hause geflohen und auf der Straße gelandet. Das ist alles."

„Ein Unfall?"

„Nicht wichtig." Tai fragte sich, ob Ella sie verurteilen würde, wenn sie es ihr sagte. Schließlich hatte ein Brandunfall Ellas Karriere ruiniert. Wenn ihr Haus nicht fast abgebrannt wäre, hätte sie ihrer Familie vielleicht helfen können.

Und im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte Ella immerhin überlebt und ihre Familie hatte nicht ihr Zuhause verloren.

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Keavan stand davor. Er war blass, seine dunkelbraunen Haare standen in alle Richtungen ab. „Tai", sagte er, ohne Ella zu beachten. „Es ist etwas passiert."

Froh über die Ablenkung ging Tai zur Tür. „Was?"

„Jemand wurde umgebracht."

Tai warf einen Blick zu Ella, die mit weit aufgerissenen Augen zwischen ihr und Keavan hin und her starrte. Scheinbar hatte sie es ebenfalls gehört.

„Wer?", fragte Tai. „Und von wem?"

„Ein anderer Wettbewerbsteilnehmer. Ich weiß den Namen nicht. Von der Aschefee."

Tai verließ das Zimmer und schloss die Zimmertür hinter ihnen. „Ich brauche frische Luft", sagte sie. „Kommst du mit in den Palastgarten?"

Keavan nickte, sichtlich dankbar, dass sie einen Ort vorschlug, an dem sie ungesehen reden konnten, und hakte sich bei ihr ein.

Ein Thron aus Eis und AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt